#11 Sophie Jones: Ich war ein Zeuge

Shownotes

Unser heutiger Gast ist Sophie Jones. Sie erzählt uns von ihrer außergewöhnlichen Geschichte als Sektenaussteigerin. Von ihrer Kindheit, in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas, bis hin zu ihrem mutigen Ausstieg und ihrer heutigen Rolle als Aktivistin und Autorin – Sophie gewährt uns einen Einblick in eine Welt voller Verbote, Ängste und streng religiöser Normen.


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Transkript anzeigen

0: 00:00Triggerwarnung. Bevor wir beginnen, möchten wir dich auf etwas Wichtiges hinweisen. Uns sind deine Sicherheit und Gefühle wichtig. Wir möchten gewährleisten, dass du dich während des Hörens unseres Podcasts wohlfühlst und keine unerwarteten Auslöser erlebst. In dieser Episode werden wir Themen ansprechen, die für einige Hörende verstörend sein könnten. Zu Beginn der Folge stellen wir das Thema vor. Falls du denkst, dass das genannte Thema für dich persönlich belastend sein könnte, dann möchten wir dich bitten, die Folge direkt zu beenden. Stell dir vor, du kommst in einen Raum, vor dir sitzt ein Mensch und du hast keine Ahnung, wer das ist. Das passiert mir in jeder Folge bei unserem Podcast von Bohne zu Bohne. Mein Name ist Charlotte und ich weiß vorher nichts über

0: 00:44unsere Gäste. Kein Name, keine Information, keine Themen. Also werden meine Fragen auch deine Fragen sein. Ich bin Sanja und ich suche die Gäste. Hier achte ich darauf, dass es Menschen mit spannenden Persönlichkeiten und faszinierenden Erlebnissen sind. Und genau die wollen wir mit euch teilen. Bist du bereit, gemeinsam mit Charlotte neue Geschichten kennenzulernen? Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge. Mein Name ist Charlotte. Mein Name ist Sanja.

0: 01:16Und mein Name ist Sophie Jones. Und ich bin Sektenaussteigerin. Hallo Sophie. Tatsächlich, erst einmal die Situation, ich bin in den Raum reingekommen und ich kannte dich. Also tatsächlich. Ich fühle mich total geehrt. Ich fühle mich richtig geschmeichelt. Ihr könnt es euch gar nicht vorstellen.

0: 01:31Du bist tatsächlich auf einem Wunsch von mir hier. Also wir haben das meistens bei uns so, dass ich spannende Menschen kennenlerne oder finde im Netz und ich werde dann einfach rüber pingen an Sanja und sage hier schau dir mal die Leute an. Super spannender Kandidat mit dem würde ich, mit der würde ich mich gerne unterhalten und du warst dabei tatsächlich und ich mache die Tür auf seh dich und denke ja dich kenne ich, das finde ich richtig schön, das freut mich voll. Okay gut, aber nichtsdestotrotz die Zuhörenden kennen dich nicht und dementsprechend müssen wir natürlich auch die abholen.

0: 02:03Wo fängt deine Geschichte an? Also meine Geschichte startet bei meiner Geburt. Ich wurde in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren, bin dann später ausgestiegen und bin heute als Aktivistin tätig, als Autorin und ja Betreuaussteiger. Du bist mit wie viel Jahren ausgestiegen? Ich bin ausgestiegen im Alter von 18, habe aber schon eher so ein bisschen Zweifel gehabt. Also es war jetzt nicht so holterdiepolter, ich gehe jetzt mal raus, sondern das war schon längerer Prozess. Und wann hast du für dich so gemerkt, hier stimmt was nicht, ich fühle mich hier nicht

0: 02:36so wohl? Also ich habe mich ehrlich gesagt sehr oft nicht wohl gefühlt in dem Leben. Ich glaube, viele, die so eine ähnliche Erfahrung haben, können das auch bestätigen, dass einfach so ein streng religiöses Umfeld mit sehr viel Ängsten verbunden ist, mit Schuld, mit Scham. Du hast ja sehr, sehr viele Verbote. Also wir sind hier zum Beispiel gerade in einer Wohnung, die sehr weihnachtlich geschmückt ist und Weihnachten war bei uns zum Beispiel verboten. Also ich habe nie Weihnachten gefeiert, ich habe nie Geburtstag gefeiert, nie Ostern gefeiert, eigentlich gar nichts gefeiert und dann hast du halt alle

0: 03:06möglichen Regeln, an die du dich halten musst und so. Das engt, das engt dich sehr ein und als kleines Kind geht es vielleicht noch, wenn deine Eltern deine größten Vorbilder sind, du kennst niemand anders und so, du kriegst es so mit, dein ganzes Umfeld besteht ja auch aus Zeugen, dann denkst du, okay, das ist normal und alle sind so und dann wirst du älter und gehst zur Schule und du merkst, okay, komisch, die anderen sind ganz anders und dann irgendwann bist du so, also so alt, dass du merkst, nee, die anderen sind gar nicht anders, sondern ich bin anders, mit mir stimmt irgendwas nicht und dann fängst du natürlich auch an zu zweifeln und hinterfragst so ein paar Sachen.

0: 03:40Wie groß war denn die Peergroup oder die Gemeinde, mit der du dich immer beschäftigt hast oder die um dich herum war? Also wenn du einen Zeugenjuhu fährst, gibt es so Ortsversammlungen, also es sind wie Ortsgemeinden quasi. Und meine war recht verkündigerstark. Also da waren damals, glaube ich, 120 Verkündiger plus Kinder. Also Kinder, wenn die nicht getauft sind und nicht umgetauft sind, werden nicht mitgezählt. Und das war schon groß. Also das war, ich bin ursprünglich aus der Nähe von Zwickau, das ist so Westsachsen. Da war, also da sind dann halt jetzt nicht nur aus einer Stadt, sondern auch aus Dörfern und so weiter. Und dann hast du innerhalb der Gemeinschaft, hast du dann noch so kleinere Gruppen, also Buchstudiengruppen hatten wir damals, weil wir uns dann noch zusätzlich getroffen haben an einem Tag in der Woche und nochmal in einer kleineren Gruppe

0: 04:24Publikationen studiert haben und so. Aber du hast halt ein sehr, sehr enges Verhältnis. Also du bist wirklich angehalten, auch deine Freizeit möglichst mit Leuten zu verbringen, die auch in der Gemeinschaft sind und jetzt wenig mit den sogenannten weltlichen Leuten. Würdest du sagen, dass deine Jugend insoweit dich eingeengt hat, dass du ja Schwierigkeiten hattest, dich selbst zu entfalten und herauszufinden, wer du bist und was du willst? Total. Also du kannst dich eigentlich gar nicht entfalten. Dafür ist gar kein Platz da, weil du keine, also zum Beispiel Homosexualität wird strikt abgelehnt. Du darfst keinen Sex vor der Ehe haben. Du darfst ja nicht mal dich

0: 05:00körperlich, also Masturbation ist verboten. Du darfst jetzt auch nicht einfach mit einem Jungen aus der Schule mal rumknutschen oder so, weil alles was du tust, was dich zum Beispiel erregt, ist Sünde. Das heißt, du bist in der Pubertät eigentlich komplett am Arsch, weil du hast natürlich, dein Körper will sich entwickeln, so, dein Umfeld, so, die probieren sich alle aus, dann bist du natürlich auch schnell mal so Mobbing-Opfer, wenn du halt bei gewissen Sachen nicht mitreden kannst, dann ist dein Kleidungsstil anders, dann hast du eine andere Freizeitgestaltung, so, du guckst keine

0: 05:31Filme, in denen rumgeballert wird, du hörst keine Musik, in denen irgendwie um und Koks geht und was in jedem Song ist. Du bist einfach total anders. Zum Beispiel, ich habe bis heute nie Harry Potter geguckt. Da geht es halt um Zauberei. Und es sind so viele Lebensbereiche oder kleine Kinder, die hören Bibi Blocksberg. Das gab es nicht bei uns. Es ist halt eine Hexe. Das ist spiritistisch. Das darfst du dir nicht reinziehen. Du bist eigentlich in jedem Aspekt deines Lebens erheblich eingeschränkt. Und das ist ja auch so ein Merkmal für eine Sekte, dass sie keinen Platz lässt für die persönliche Entfaltung des Individuums.

0: 06:09Das heißt, es gibt eine Vorgabe, wie du zu sein hast. Und innerhalb dieser Vorgabe kannst du dich zwar bewegen, aber das ist so ein enges Spektrum. Also klar kann es sicher ein Zeugen Jehovas geben, dessen Hobby ist Bowling und dann gibt es vielleicht einen anderen und der mag Bowling nicht und dessen Hobby ist Tischtennis. Aber du wirst keinen finden, der Bogenschießen geht oder du wirst keinen finden, der Judo macht oder du wirst keinen finden, der Arzt ist. Das ist halt einfach so, weil du gewisse Regeln hast, an die du dich zu halten hast und das engt deine persönliche Entwicklung total ein.

0: 06:42Du wirst auch keinen finden, der es liebt zum Tätowierer zu gehen oder sich die Haare grün zu färben. Das ist halt einfach so. Also ich habe mich schon mal mit dem Thema ein bisschen auseinandersetzt gehabt und dort wurde immer wieder deutlich, dass viele auch sehr in die Gemeinde eingebunden wurden, sodass sie gar nicht beruflich wirklich Fuß fassen konnten, geschweige denn, also einen Job in Anspruch nehmen konnten, der jetzt sehr viel Zeit braucht. Würdest du das unterschreiben? Also ich habe das damals so gelernt, dass du was, du sollst dir einen Job suchen,

0: 07:10der dir möglichst viel Freiheiten gibt, wo du im besten Fall noch Teilzeit arbeiten kannst, dass du mehr Zeit hast im Predigdienst für Jehova. Ich glaube, das hat sich aber mittlerweile ein bisschen gewandelt. Also ich kenne tatsächlich auch Geschichten von Leuten aus, die so in den westlichen Bundesländern irgendwie sind, dass da Leute in Versammlungen teilweise CEOs sind und krasse Posten haben. Kenne ich persönlich jetzt nicht. Also dort, wo ich herkomme, da waren das eigentlich eher Handwerker und, sage ich mal, Berufsbereiche, wo du jetzt keinen Studienabschluss oder keinen akademischen Grad hast.

0: 07:41Also ich kenne persönlich, also ich kenne keinen, der studiert hat. Und auch als ich auf meiner Schule, also bei mir war Abi keine, also darüber haben wir gar nicht diskutiert. So, oder ein Studium, das war nicht im Bereich des Möglichen und das war auch gar nicht erstrebenswert, weil ich habe immer gelernt, keine höhere Bildung ist kein Muss. Du sollst zwar gut sein in der Schule und so, aber das ist jetzt kein Muss. Und später sollst du halt einfach mal im besten Fall eine Ausbildung machen, dann Teilzeit arbeiten, damit du mehr predigen kannst. Das Wichtigste im Leben ist halt Gott. Und irgendwas Materielles anstreben oder eine Karriere, das hilft dir doch nicht mit deinem Verhältnis zu Gott. Warum also? Ich hatte da dann mitbekommen, dass es eine Art von Kompensation gibt, wenn man tatsächlich einen Job hat, der sehr viel in Anspruch nimmt, dass man dann im Prinzip

0: 08:29sehr viel Geld spenden soll, um dann zu kompensieren, dass man eigentlich nicht an den Predigen teilnehmen kann, geschweige denn das Wort weitertragen kann, was eben für wichtig erachtet wird. Ja, das kann schon sein. Also ich war noch nie in so einer Lage, dass ich jetzt so viel Geld hätte, dass ich gesagt habe, ich kann jetzt nicht predigen, aber ich bin übelst reich, also schieße ich jetzt hier jeden Monat 30.000 Euro in die Organisation. Kann ich persönlich nicht sagen. Also natürlich ist es schon so, dass man, also Spenden ist freiwillig, das ist einfach

0: 09:00ein Fakt. Da wird keiner gezwungen, was zu spenden. Aber es ist natürlich auch so, dass die Organisation von freiwilligen Spenden lebt. Die Zeitschriften, die Publikationen, das ist alles kostenlos. Die Mitglieder müssen keinen Mitgliedsbeitrag zahlen. In anderen Gemeindenschaften, also in anderen Sekten, müssen zum Beispiel 10% des Einkommens abgegeben werden, so der 10. Prozent, wie es halt aus der Bibel bekannt ist. Und das machen die Zeugen Jehovas nicht. Und die finanzieren alles, also ihr komplettes weltweites

0: 09:26Predigtwerk durch freiwillige Spenden. Und das sind Kosten. Die haben ja auch selber die ganzen Gebäude, die haben Kongresssäle, die haben Königreichssäle. Das ist nicht günstig. Und klar, die, die predigen gehen, das sind ja alles kostenfreie Mitarbeiter, wenn man so will, aber irgendwo muss ja ein Geldfluss erzeugt werden. Und ich denke, der wird schon dadurch erzeugt, dass viele, die vielleicht auch gar nichts anderes im Leben haben und dann zum Beispiel sterben, ihr ganzes Vermögen der Gemeinde vermachen. Also irgendwelche älteren Leute, die Kinder sind ausgestiegen, die haben keinen Kontakt,

0: 10:00ihr Lebensinhalt ist die Gemeinschaft, na klar, dann vererben die, den Zeugen alles. Aber ja, ob das jetzt so ein, es kann schon sein, dass da, wenn es da Reiche gibt, dass die sagen, ja, um mein Gewissen zu beruhigen, spende ich jetzt mehr. Aber gut, das ist dann wahrscheinlich auch... Also da ging es, da ging es viel um auch sozialen Druck. Also der wird indirekt, zumindest das, was ich mitbekommen hatte, wurde der indirekt ausgesprochen, der soziale Druck, so dass einem klar war, okay, entweder du hilfst, du unterstützt aktiv und wenn du das nicht kannst, dann musst du das so machen. Das heißt also ähnlich wie du es formuliert hast,

0: 10:32es ist alles vollkommen freiwillig, aber trotzdem ist da unterschwellig eine Art von Druck zu spüren. Hast du das irgendwo gespürt? Also das mit dem freiwillig bezieht sich jetzt tatsächlich nur auf die Spenden. Also Predigen gehen oder so ist eigentlich verpflichtend. Okay. Also Predigen gehört für dich zur Anbetung. Das ist die Voraussetzung, dass du getauft wirst. Es steht nicht zur Debatte, jeder hat Predigen zu gehen. Also ob da jetzt wirklich, wenn jemand das wegen der Arbeit absolut nicht schafft, ob da Sonderregelungen gelten, kann schon sein, weiß ich persönlich jetzt nicht. Aber im Normalfall hat jeder zu predigen.

0: 11:08Und ab welchem Alter? Na, wenn du klein bist, du gehst schon immer mit. Du gehst dann halt mit deiner Mutter mit oder mit anderen aus der Gemeinschaft. Du hast halt zu, dann irgendwann fängst du mal an, sagst mal den ersten Bibeltext auswendig auf, wenn du vielleicht noch nicht lesen kannst. Dann später machst du halt vielleicht mal deine erste Einleitung und irgendwann, wenn du dann älter bist, kriegst du vielleicht auch dein eigenes Gebiet und dann kannst du selber losgehen und kannst dir Termine ausmachen und so.

0: 11:34Und früher, also es hat sich vor kurzem geändert, aber sonst war es immer so, dass die Verkündiger am Ende des Monats einen Zettel abgegeben haben, den Berichtszettel. Da stand dann drauf, wie viele Stunden waren sie jeden Monat im Predigtwerk tätig, wie viele Zeitschriften haben sie abgegeben, wie viele Rückbesuche waren es, wie viele Heimwebestudien und so weiter. Und so haben die halt kontrolliert, wer wie viel geht. Und wenn du jetzt zum Beispiel, man hat gemerkt, die Person geht jetzt gerade nicht so viel, dann wurde halt auch mal das Gespräch gesucht oder so. Das war schon

0: 12:03ein Kontrollorgan. Ich glaube, jetzt haben sie das vor zwei Monaten oder so, da gab es einen riesen, also fast schon Skandal, dass die diese Zettel abschaffen. Dass die quasi den Leuten, die kommen ja gar nicht mehr hinterher, ob die Leute dann wirklich predigen. Ich glaube, die einzigen, die noch die Zettel abgeben müssen, sind die Pioniere. Aber, also manchmal kriegt man ja doch noch so Änderungen mit, auch wenn es jetzt nicht mehr so nah an mir dran ist. Aber das finde ich total spannend, weil ich mir so denke, ich muss mir damals einen abrackern und da habe ich dann noch manchmal gelogen am Ende.

0: 12:33Da habe ich falsche Zahlen geschrieben. Ja, ist ja auch Sünde, aber trotzdem. Und jetzt die, die haben es total easy, die brauchen eigentlich gar nicht mehr gehen. Könntest du mir einmal ganz kurz so einen Wochenablauf von dir als Kind beschreiben? Wenn du sagst, du warst vorher in der Schule, dann solltest du predigen und dann sagtest du ja noch ganz viele andere Dienste. Also als ich klein war, hat man sich dreimal pro Woche getroffen, zweimal davon in dem großen Königreichssaal zum Programm und das dritte war in dieser Buchstudiengruppe, also in einer kleineren Gruppe und das war dann immer bei jemand zu Hause. Man hat sich da dann abgewechselt. Das war dann

0: 13:08halt ein Abend in der Woche, ich glaube eine Stunde war das und die im Königreichssaal die Abende oder beziehungsweise, also sagen wir jetzt mal Mittwoch zum Beispiel, das waren dann zwei Stunden. Also da hast du zum Beispiel 19 Uhr bis 21 Uhr dann da Versammlung und dann immer noch mal einmal sonntags. Und je nachdem auch, also in Leipzig zum Beispiel hatten wir andere Zeiten, weil die haben ja mehrere Versammlungen und die müssen sich halt reinteilen mit der Immobilie quasi, können ja nicht alle zur selben Zeit kommen. Ansonsten, wie oft du predigen gehst, ist an sich schon deine Sache.

0: 13:40Also du kannst zweimal pro Woche gehen, aber eigentlich, also einmal pro Woche musst du eigentlich schon gehen. Das ist sonst sehr peinlich. Die machen ja auch immer so Predigtdienst-Treffs in der Versammlung. Also du bist auch nicht darauf angewiesen, dich selber mit jemandem zu verabreden, sondern du kannst auch da zur Versammlung gehen und dann wird man halt in Gruppen eingeteilt. Dann hast du, also jeden Tag sollst du eigentlich persönliches Bibellesen machen, also oder ein persönliches Studium von der Veröffentlichung von dem Buch. Dann hast du ja sonntags in der Gemeinschaft immer das Wachtturm Studium. Das musst du halt vorbereiten.

0: 14:16Also da dauert die Vorbereitung auch noch mal so ein, zwei Stunden. Das macht man auch teilweise in Gruppen. Was ist das, das Wachtturm Studium? Der Wachtturm ist die Zeitschrift von Jehovas Zeugen. Ist tatsächlich sogar die auflagenstärkste Zeitschrift der Welt. Ich glaube mit über 34 Millionen Exemplaren pro Ausgabe. Das ist schon sportlich. Und die haben das aber auch vor ein paar Jahren mal gesplittet, dass es eine Version gibt

0: 14:38für die Öffentlichkeit und eine interne. Also die Studienversion ist die interne quasi. Und das wird natürlich dann auch noch vorbereitet. Das heißt, du triffst dich, wenn du es richtig machst, an einem Tag in der Woche noch mit anderen aus der Versammlung zur Vorbereitung, damit du dann Sonntag nicht in der Versammlung sitzt und völlig unvorbereitet bist. Das ist nämlich auch peinlich. Ja und dann hast du noch im Normalfall noch ein Familienstudium. Also noch irgendwie wenn du mit deinen Eltern oder die Eltern mit den Kindern oder wenn du das nicht hast, dann halt mit

0: 15:06einer anderen Person, mit einem Mentor oder so. Genau, also du hast eigentlich jeden Tag was zu tun. Dann täglich hast du noch den Tagestext, den du immer noch liest, früh im besten Fall. Und dann halt noch mehrfach am Tag beten und so. Genau. Und auf die andere Zusammenkunft in der Mitte der Woche musst du dich ja im besten Fall auch noch vorbereiten. Also da gibt es ja auch noch Programmpunkte. Was würdest du sagen, wie viele Stunden hat das in Anspruch genommen? Viel. Also das ist schon viel. Also es gibt ja auch Leute, die machen so Pionierdienst. Das heißt, es ändern die auch immer die Zeiten. Also wenn jetzt hier jemand zuhört, der davon Ahnung hat, es tut mir leid, wenn ich es falsch sage. Also ich glaube, als ich ganz klein war, war der Pionierdienst noch, also das heißt Vollzeitdienst,

0: 15:44waren glaube ich 80 Stunden im Monat oder sogar 100. Und dann haben sie es glaube ich irgendwann runtergesetzt auf weniger. Aber dann hast du ja gar kein Privatleben mehr. Ne, genau, das sind dann Leute, die sind arbeitslos oder haben nur einen Teilzeitjob. Und dann gibt es Hilfspionier waren 50 Stunden im Monat predigen, das konnte man auch nur für einen Monat mal machen. Aber das haben, da haben sie dann auch mal eine Light-Version gemacht. Ich glaube da haben dann auch 20 Stunden oder 30 gereicht. Das habe ich auch mal einen Monat gemacht. Und wie war das? Das ist hart, also auf die Stunden musst du halt erst mal kommen. Und da zählt aber auch, es gibt auch so informelles Zeugnisgeben und so weiter,

0: 16:29also du kannst, du musst nicht nur von Tür zu Tür gehen, du kannst auch zum Beispiel Briefe schreiben, Leute anrufen oder keine Ahnung, also deswegen schreiben die ja auch manchmal Briefe oder auch während Corona haben die ja ganz viel so auch, weiß ich nicht, Steine bemalt und so ein Kram. Das kannst du dann auch zählen, die Zeit. Würdest du sagen, dass sich das Bild von Tanya Hovas gewandelt hat in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit? Ich kann das nicht richtig beurteilen. Ich bin da glaube ich ein bisschen zu nah dran. Also ich denke schon, aber ja doch, eigentlich schon. Ich habe vor fünf Jahren angefangen mit YouTube-Videos und da war ich so die Erste. Also da gab es noch zwei andere Mädels, die hatten auch, die eine hatte ein recht großes Video mit über

0: 17:16einer Million Klicks damals, das gibt es aber nicht mehr und die andere hatte auch so drei Videos nur, aber sonst gab es gar nichts online und da habe ich angefangen YouTube Videos zu machen und danach kamen dann auch richtig viele und ich glaube auch, dass damals nicht so viele Medienbeiträge waren, also das ist glaube ich schon auch dann mit mir irgendwo gewachsen, also in dem Zeitraum wo ich das mache mit gewachsen, aber ich als Außenstehende, also ich kriege das jetzt nicht so mit. Also ich merke halt auch immer, dass viele Leute, wenn ich mit Menschen rede, dass die gar keinen richtigen Plan haben. Also das ist auch viele einfach gar nicht erreicht. Also dass viele

0: 17:50ach, Quasecht und so. Also ich habe gar keinen Bezug zu denen oder ich weiß ja gar nicht, was los ist. Also das höre ich auch sehr oft. Von daher ist, selbst wenn sich es gewandelt hat, ist es immer noch nicht genug. Mich würde noch interessieren, wie war denn dein Tag in Anfangstechen der Flucht? Also wie war das für dich? Ich würde tatsächlich viel lieber viel früher anfangen. Und zwar hattest du ja schon gesagt, dass du als Kind in der Schule schon anders warst, dass du irgendwann gemerkt hast, okay ich bin die Person, die anders ist. War die Schule dann eher weniger eine Flucht aus den Zeugen Jehovas oder wie hast du den Alltag in der Schule wahrgenommen?

0: 18:27Also Schule so teils teils. Ich muss dazu sagen, als ich im Grundschulalter war, haben sich meine Eltern getrennt und mein Vater wurde dann aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Und bei Jehovas Zeugen ist es so, dass du mit niemandem Kontakt haben darfst, der kein Teil der Gemeinschaft mehr ist. Und ich war natürlich noch nicht getauft und so weiter und war noch recht klein und hatte meinen Vater dann dennoch ab und zu mal gesehen. Aber als ich dann größer geworden bin, ich bin dann bei meiner Mutter geblieben. Meine Mutter war dann auch arbeitslos sehr lang und ja, hatte

0: 18:57sich selber auch einfach überhaupt nicht im Griff. Also die hatte, ich weiß nicht, eine ganz kranke Person auch einfach. Und da gab es dann wirklich ganz viel Streit, auch ganz viel Gewalt. Und das ist immer richtig eskaliert. Und ich wollte natürlich gerne Und was hatte ich für Optionen? Zu meinem Vater schwierig, weil mein Vater natürlich kein Zeuge Jehovas ist und ich natürlich trotzdem meinen Gott nicht verraten wollte. Und deswegen stand ich immer so ein bisschen zwischen den Stühlen. Also ich wollte gerne zu ihm ziehen einerseits, wollte ja aber auch nicht meine Gemeinschaft

0: 19:29und meinen Gott enttäuschen. Ja und Schule, also da war es dann so, dass ich tatsächlich in den höchsten, also in den schlimmsten Zeiten habe ich mir so viele AGs gesucht nach der Schule, damit ich nicht zu Hause sein muss. Aber trotzdem war ich ein Loser. Also ich war ein totales Mobbing-Opfer, würde ich mal so sagen. Also es war jetzt auch nicht krass schlimm, um Gott zu willen. Es gibt bestimmt tausend Leute, bei denen es schlimmer war. Aber ich hatte jetzt keine großartigen Freunde.

0: 19:56Ich war jetzt nicht irgendwie, ich weiß nicht, irgendwie beliebt oder so. Also auf gar keinen Fall. Aber ich habe einfach versucht, dann nicht zu Hause zu sein und habe mir dann, was habe ich denn gemacht? AG Kunst, AG Uni-Hockey, AG Film, AG bewegte Schule, AG Blablabla, alles Mögliche, was so ging und was mich halbwegs interessiert hat, damit ich nicht daheim bin, weil ich wie gesagt mit meiner Mutter immer total angeeckt bin. Ja, und das hat sich dann alles so hochgeschaukelt, dass ich dann total depressiv war, so Alter 13, 14 und dann letztendlich auch mehrere

0: 20:29Suizidversuche hatte. Und es hat aber nicht geklappt. Und das war für mich auch so ein Wendepunkt im Leben, dass ich einfach gedacht habe, okay, ich habe ja trotzdem an Gott geglaubt und Selbstmord ist ja auch eine Sünde. Aber ich habe gedacht, wenn er mich liebt, dann sollte er mich doch befreien aus dieser Situation. Also warum lässt er mich dann nicht sterben? Weil das war für mich der einzige Ausweg. Zu meinem Vater konnte ich ja nicht gehen und wo willst du sonst hin? Dann hatte ich auch mal kurz überlegt ins Kinderheim oder so. Aber kümmer dich mal selber um sowas. Also wer macht das?

0: 21:03Ich habe da noch eine Zwischenfrage. Du hast gesagt, du hast mehrere mal versucht dich selbst umzubringen. Hat das jemand mitbekommen? Es hat sogar jemand mitbekommen aus der Gemeinschaft, weil ich natürlich dann auch, also ich habe mich anderen Leuten so ein bisschen versucht anzuvertrauen. Ich habe es auch einer von in der Schule dann so erzählt. Ich habe mir dann auch einen ganz süßen Brief geschrieben. Und es wurde dann von der einen aus der Gemeinschaft meiner Mutter zugetragen.

0: 21:30Und es ist aber nicht so, dass die das jemals mit mir irgendwie ordentlich besprochen hätte oder so. Also die hat sogar mal, ich habe ja im Vorfeld Recherche betrieben, und da hat sie damals bei unserem Computer mal in den Verlauf geguckt und hat auch gesehen, dass ich recherchiert habe, wie man sich am besten das Leben nimmt auf verschiedenen Seiten. Und da hat sie mich danach gefragt, da habe ich gesagt, das ist ein Projekt für die Schule. Und das hat sie mir geglaubt. Also ich glaube, sie wollte mir das glauben.

0: 21:55Und dann hat sie, wie gesagt, mal die eine aus der Versammlung, der ich halt damals vertraut habe, und der ich gesagt habe, mir geht es nicht gut und so. Die hat ihr das dann weitergetragen, aber die hat das nie mit mir kommuniziert. Also gar nicht, null Aufarbeitung, null Interesse irgendwie da dem Kind zu helfen oder so. Wie hast du das versucht? Ich wollte mich ersticken. Wie hast du das versucht? Mit einer Mülltüte.

0: 22:20Also ich will jetzt hier auch gar nicht so intensive Tipps geben. Aber das ist schon heftig. Ja. Okay. Und das hast du mehrere Male auf dem gleichen Weg versucht? Also ich habe tatsächlich auch mit Medikamenteneinnahmen, weil meine Mutter hatte immer so Migränetabletten, so ganz starke Dinge. Aber da war, also da habe ich mal mich herangetastet, aber ich konnte es nicht einschätzen, wie viel man da tatsächlich verspeisen muss, damit das funktioniert. Und das war mir dann zu unsicher.

0: 22:47Also ich dachte mir auch im Vorfeld immer, wenn ich das mache, also das muss auch klappen. Weil ich will nicht am Ende, also auch sowas Blutiges, das wollte ich gleich gar nicht. Also erstens hätte ich wahrscheinlich gar nicht getroffen. Und ich wollte auch möglichst schön, also nicht dann so halb explodiert aussehen oder hier für, weiß ich nicht, Sachen halt. Und dann habe ich halt gedacht, okay, was ist die undreckigste Lösung, wo kann man noch halbwegs mit Würde abtreten, aber ästhetisch ansprechend abtreten, ohne zu viel Schmutz zu verursachen und was macht zu wenig Aufwand? Also wo kommst du auch ran als minderjähriges Kind?

0: 23:29Und da habe ich dann ersticken für mich gewählt und das war es tatsächlich so, dass ich im Moment des Todes ein sehr intensives Gespräch mit Gott hatte. Also ich hätte eigentlich wirklich sterben müssen. Also schließe ich mir auch bis heute nicht, warum ich nicht gestorben bin. Weil ich einfach, also ich war nicht blöd. Und ich hatte auch nicht mehr diesen, viele haben ja immer diesen Überlebensinstinkt, dass du in letzter Sekunde dir das noch vom Kopf reißt oder so. Oder dann doch, also kurz bevor du dich dann von zu kurz willst, merkst du doch noch, nee, ich will doch nicht sterben oder so.

0: 23:58Und das hatte ich aber nicht. Also ich war bereit, ich wollte wirklich und ich war auch fertig. Also da war nichts mehr, was gesagt hat, oh nee, ich hänge doch am Leben, da gab es bei mir nichts zum Dranhängen. Außer vielleicht einen Strick. Morbider Humor, ja das ist meins. Und ich habe dann in diesem Moment des Todes, also ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich da quasi halb irgendwie, also ich hätte sterben müssen, ich hätte einfach sterben müssen und ich habe dann mit Gott debattiert und ich bin mir eigentlich sicher, dass Gott mich bewusst hat, nicht

0: 24:27sterben lassen. Damals war ich ja noch sehr gläubig, aber das war für mich die einzige Erklärung. Ich saß dann da und dachte, okay, ich bin ja noch da, wann gehen jetzt hier endlich die Lichter aus? Und die Lichter gingen nicht aus. Ich habe das auch versucht, in meinem Buch so ein bisschen zu beschreiben, weil ich da vorher nie drüber geredet habe, wie das so sich anfühlt und wie das so war. Aber für mich damals in meinem Kopf war es, es hätte einfach klappen müssen.

0: 24:56Also da war kein Grund, dass es nicht hätte funktionieren müssen. Ja, und ich habe es dann darauf geschoben, dass Gott mich nicht sterben lassen wollte, weil er noch einen Plan für mich hatte. Heute denke ich mir, okay, kann schon. Also ich bin ja jetzt auch nicht, das ist immer so eine Frage, so was glaubst du heute? Ich bin ja heute, ich bin mit Gott an sich fertig, aber ich glaube trotzdem, dass es übernatürlich war, dass ich da nicht gestorben bin. Also ich denke schon, da hat es mit was mit höheren Dingen zu tun, weil logisch kann ich es mir nicht erklären. Aber es wäre nett, dass ich noch da bin. Jetzt tatsächlich. Macht es schon Sinn.

0: 25:30Okay, gut. Du hast jetzt gerade gesagt, du hast das dann versucht und die Schulzeit war so ja okay irgendwie so ein bisschen habe ich jetzt wahrgenommen richtig ja schon mehr beschissen als okay ja okay aber du hast dann für dich so festgestellt du willst nicht mehr da sein hast dich eine weiteren zeuginnen anvertraut und dann ist aber nichts passiert also nie das ich glaube das war ein paar tage vorher da habe ich irgendwie mit der sms also ich habe mir immer so ersatzmütter gesucht auch in der gemeinschaft meine mutter natürlich mir nie also ich habe mich bei der nicht sicher, ich habe denen nichts anvertraut, sodass ich konnte mit der auch

0: 26:06nicht reden und so und ich mochte die auch einfach nicht menschlich und habe mich dann anderen anvertraut und so und die eine, der ich mich anvertraut hatte, der hatte ich dann halt geschrieben, dass ich, also mal als ich so super traurig dann im Bett lag, das war aber nicht der Tag, an dem ich sterben wollte, habe ich ja geschrieben, dass ich sehr traurig bin und dass ich nicht mehr leben will und so weiter, ich kriege das jetzt auch nicht mehr zusammen, ist ja viele Jahre her. Und dann hat sie halt scheinbar bei der Mutter angerufen, ihr hat das gesagt und ich kam dann ins Zimmer und hab gesagt, was ist denn so der jetzt geschrieben

0: 26:33und so. Aber das wurde dann nie wieder angesprochen. Also die hat im Affekt quasi mich dann angebrüllt, aber, also bist du bescheuert oder was? Also eine Frau, also eine aus deiner Gemeinschaft ruft dich an, sagt dir, dass dein Kind nicht mehr leben will und die logischste Schlussfolgerung daraus ist, in das Zimmer von deinem Kind zu rennen, dein Kind anzuprüllen, was es soll und dann nie wieder darüber zu reden, das hilft bestimmt, ist therapeutisch auch wahnsinnig wertvoll. Würde ich eins zu eins übernehmen, kann ich jedem nur empfehlen. Mach das. Hattest du mal überlegt Behörden einzuschalten oder ähnliches?

0: 27:01Ja, also ich hatte ja überlegt in ein Kinderheim zu gehen und ich hatte damals, das ist auch total witzig, ich habe gestern auch erst darüber geredet, ich hatte damals eine Therapie. Also ich kam mit meiner Mutter nicht klar und meine Oma war gestorben, als ich so zehn war. Und das war so die einzige, mit der ich klar kam. Die war aber auch keine Zeugin. Und irgendwann war meine Mutter, weil wir ja auch viel Stress hatten, der an sich, wir brauchen eine Familientherapie. Aber der Inbegriff der Familientherapie war, dass ich immer nur hingegangen bin und sie nicht. Also ich war eigentlich da ganz viele Jahre. Und ich habe in dem Unterricht von, also was ist im

0: 27:35Unterricht in der Therapie, dann meistens wollte sie, dass ich etwas male oder hat mit mir über irgendwas geredet. Es war die sinnloseste Therapie. Das kann ich heute, denke ich, ist es auch null vertretbar. Aber ich habe die Therapeute noch mal aufgesucht vor ein paar Jahren. Ich habe die gefragt und wollte wissen, ob die das wusste, dass bei uns Gewalt so ein Riesenthema war. Und ob ich das gesagt habe oder wie ich das dargestellt habe. Und da hat sie gesagt, nee, das.

0: 28:01Und da habe ich gesagt, auch mit der Sekte, was habe ich denn erzählt? Die so, ne das war nie Thema. Und ich weiß genau, dass ich damals noch immer, du bist angehalten, keine Schmach auf Gottes Namen zu bringen. Das heißt, dein wichtigstes Goal im Leben ist eigentlich nach außen hin immer den Anschein zu erwecken, es ist alles Friede, Freude, Eierkuchen. Wir Zeugen, wir sind ganz toll, wir sind gesegnet, wir haben ein tolles Leben, wir haben einen

0: 28:25guten Draht zu Gott, so kommt doch zu uns, bei uns ist alles toll. Und somit versuchst du ja eigentlich so einen Schein zu wahren, der nichts mit der Realität zu tun hat. Und deswegen wollte ich auch der Therapeutin nicht sagen, wenn bei mir zu Hause mit meiner Mutter, weil sie ja auch eine Zeugin ist, weil ich das ja wusste. Sie ist auch, sie hat Gotteslegenheit, sie ist auch sein Kind, was auch immer. Ich wollte nicht, dass irgendwas negativ auf die Gemeinschaft zurückfällt. Deswegen habe ich da nichts großartig erwähnt.

0: 28:52Ich habe vielleicht mal über Sachen mit meinem Vater geredet oder so. Aber ja, also ich habe da jetzt nicht erzählt, dass meine Mutter mich schlägt und mir Dämonen austreiben will und was auch immer. Also, keine Ahnung, da habe ich wahrscheinlich alles ein bisschen schön geredet. Also wir hatten vor ein paar Folgen einen Gast, Herr Klein. Und Herr Klein hat uns mitgeteilt, dass gerade Kinder dazu in der Lage sind, super alles runter zu spielen und von außen den Schein zu warnen, wenn zu Hause aber eigentlich gar nichts gut funktioniert. Weil Kinder dieses Prinzip, da Täter-Opfer-Umkehr irgendwo dann schon

0: 29:24verinnerlicht wurde, dass sie da, dass sie eigentlich die Täter schützen wollen. Das ist total abstrus. Kinder sind dazu, weil die das nicht verstehen, oft sind ja auch Eltern die Täter, Kinder wollen die Täter schützen. Keine Ahnung warum, es ist so. Es ist einfach so. Ich glaube, das liegt daran, dass Kinder von den Eltern geboren und großgezogen wurden. Und für Kinder sind Eltern nie schuldig, sondern immer die Kinder sind die Schuldigen. Ich würde gerne noch mal weitergehen.

0: 29:53Du hattest gesagt, du warst dann irgendwann mit Gott fertig nach deinem Suizidversuch. Kannst du das in irgendeiner Art und Weise beschreiben? Das klingt ja schon nach etwas mehr Hass oder nach so einer Hassliebe dann wohl eher. Wie ging es denn für deinen Glaubensweg weiter? Also das war für mich ehrlich gesagt eine totale Glaubenskrise, weil ich hatte ja nichts mehr im Leben. Ich habe mir so gedacht, okay, ich muss, also das war für mich wirklich der letzte Ausweg, weil ich wusste, in dem Moment, wo ich mir das Leben nehme, verliere ich ja nicht nur

0: 30:20das Leben, sondern ich verliere auch mein ewiges Leben. Weil Suizid halt eine Sünde ist, deswegen werde ich niemals die Chance haben, in einem Paradies wieder aufzuerstehen. Und das wusste ich. Und deswegen habe ich mich damit auch so schwer getan und habe mich dann natürlich auch bei Gott entschuldigt und habe gesagt, ich will es ja eigentlich nicht, ich wollte es ja eigentlich vermeiden, aber mein Leben ist so – um das jetzt mal runterzubrechen – mein Leben ist so beschissen, dass mir nichts anderes übrig bleibt.

0: 30:44Ich muss das jetzt machen. Und so nach dem Motto, also du weißt doch, wie es mir geht, so hilf mir doch, hol mich doch raus aus dieser Situation. Man sieht ja manchmal so sich selber in der Zukunft oder wo sehen sie sich in fünf Jahren. Ich habe bei mir nichts gesehen. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ich irgendwann vielleicht 16 bin oder dass ich 18 bin oder dass ich ausziehe oder dass mein Leben anders aussieht. Das war für mich nicht real, dass ich diese Situation, in der ich war mit meiner Mutter, mit meinem kompletten Leben, dass ich das schaffen kann.

0: 31:20Das war nicht greifbar, null. Jenseits von Gut und Böse war das für mich. Ich habe dann halt gesagt, okay, du musst mich hier rausholen. Ich habe immer gebeten und ich habe gesagt, bitte hilf mir doch mit meiner Mutter, dass es besser wird und mit der Schule und alles und mit meinem Vater. Und dass ich auch mit den Sünden, dass ich das hinkriege, dass ich dich nicht mehr so enttäusche und dass ich einfach besser bin und so. Hilf mir doch, dass ich stärker werde. Ich war immer so schwach. Ich habe zum Beispiel bei so vielen Sachen immer angefangen zu weinen. Also wenn mich jemand kritisiert hat, ich habe angefangen zu heulen.

0: 31:51Ich konnte es nicht lassen. Also bei jeder kleinsten Kleinigkeit. Ich war der Inbegriff von Angst und Schwäche und Scham. Ich war sowieso ein Marshmallow. Ich war richtig so weich und bröselig und völlig fertig, einfach völlig ausgelaugt vom Leben. Und der hat mir einfach nicht geholfen. Der hat mir nicht geholfen. Und ich habe dann wirklich in dem Moment, als hätten wir so einen Streit, als hätten

0: 32:18wir einen Streit und ich sage, ey, mir reicht, ich kann nicht mehr. Du kannst mir nicht mehr. Das ist kein Leben, was ich hier habe. Ich will nicht mehr. Lass mich doch gehen. Und dann quasi haben wir so diskutiert in meinem Kopf. Und ich habe dann irgendwie danach, ich habe gedacht, was soll das? Das war meine letzte Chance.

0: 32:37Und ich wusste auch danach, ich brauche es nicht nochmal versuchen, weil er mich nicht sterben lässt, weil das Absicht ist, dass er mich nicht, also ich würde es nicht schaffen, selbst wenn ich es nochmal versuche, wahrscheinlich selbst wenn ich mir mit der Motorsäge den Kopf abschlachte, ich würde immer noch weiter leben. So nach dem Motto. Und dann war für mich das Leben noch mehr vorbei als vorher, weil ich wusste, ich bin ja noch mehr gefangen. Der Tod war ja für mich der Ausweg und diese Tür war zu.

0: 33:01Und dann war ich weiter in dem Gefängnis. Und da habe ich gedacht, ganz ehrlich, was soll das? Du gibst mir das Leben, aber du gibst mir nicht die Kraft, damit fertig zu werden. Du holst mich nicht da raus. Und dann habe ich angefangen, so ein bisschen Doppelleben zu führen später. Also ich habe mir auch weltliche Freunde gesucht, habe mal ab und zu eine Zigarette geraucht, habe mal einen weltlichen Jungen in der Schule geküsst und so. Und es ging ja doch weiter komischerweise mit dem Leben.

0: 33:29Das hat mich am meisten überrascht, dass das Leben doch weiterging. Weil das war für mich nicht im Bereich des Möglichen, aber es ist passiert. Ich habe weitergelebt und es wurde auch irgendwann besser. Klar. Aber ich habe das damals nicht. Ich habe das nicht gesehen. Wie lange hat es gedauert, bis es besser wurde? Also jetzt im Nachgang ging es doch schneller als geplant. Ich habe dann zum Beispiel, also ich bin in der Schule. Ich war eigentlich war ich immer sehr, sehr gut in Mathe. Und es war dann so in der Zeit, wo ich so depressiv war. Ich habe in Mathe nur noch Fünfen und Sechsen geschrieben.

0: 34:11Ich hatte einen Schnitt im Halbjahr von 5,5 in der achten Klasse. Das muss man erst mal schaffen. Also schreibt mal eine Sechste. Du hast schon eine Fünf, wenn du wenigstens das Datum richtig hinschreibst. Und also das. Ja, ich war ja auch immer. Ich war wirklich. Eigentlich war ich ein intelligentes Kind so, aber ich habe völlig reingeschissen dann in der Schule, dass wir dann gesagt haben,

0: 34:31okay, ich mache jetzt die 10. Klasse auf der Mittelschule. Ich bin auf die, also habe dann die Schule gewechselt. Hat mir auch, muss ich sagen, eigentlich nicht geschadet, weil ich wie gesagt da auch oft gemobbt wurde auf dem Gymnasium und so. Und da habe ich gedacht, okay, ich kann nochmal ein Neuanfang machen. Also dieses Gefühl, so jetzt bin ich auf einer neuen Schule, jetzt kann ich noch mal tun, als wäre ich cool oder so, wenigstens für drei Tage, bis sie dann merken, was ich für ein Loser bin. Und in der neuen Klasse waren auch zwei andere Zeugen und das waren auch so coole Jungs. Also das waren auch Jungs, die hatten schon Freiheiten und die hatten auch eine coole Frisur und denen haben die Eltern auch mal Sachen geschenkt und so.

0: 35:07Ich glaube, das hat auch ein bisschen geholfen, aber natürlich wollte ich nur trotzdem, ich war da trotzdem Außenseiter, machen wir uns nichts vor. Also ich glaube, damals, es war klar, ich bin geboren zum Außenseiter. Und ja, da war ich auf der neuen Schule und dann habe ich gemerkt, okay, alle die schreiben jetzt irgendwie Bewerbungen und damit hatte ich gar nichts am Hut, weil auf dem Gymnasium lernst du das nicht, dich für eine Ausbildung zu bewerben. Und dann ist mir so klar geworden, okay krass, danach, nach dem Jahr, da muss ich irgendwo eine Ausbildung machen. Und dann hat sich für mich die Chance ergeben, wegzuziehen.

0: 35:40Also auch von meiner Mutter wegzuziehen. Dann dachte ich, okay, krass. Das heißt, ich muss mich jetzt doch mal ein bisschen wieder anstrengen in der Schule. Also es war so der Lichtstreif am Horizont. Ich könnte jetzt mich bewerben für eine Ausbildung und könnte woanders hinziehen. Und damals habe ich mit einer studiert aus der Versammlung. Die hat in der Bibliothek gearbeitet. Und die war so meine Mentorin.

0: 35:59Die fand ich ganz, ganz toll. Und die war so cool und so hübsch. Und ja, die hatte so das, was ich nicht hatte, war ein paar Jahre älter und so und die war super lieb und alles. Und da habe ich gedacht, okay, was mache ich denn für eine Ausbildung? Also wenn ich wegziehen will, muss ich ja was machen, wo ich auch so viel Geld verdiene, dass ich alleine davon leben könnte, weil ich war ja erst 15. Und sie hat halt, wie gesagt, in der Bibliothek gearbeitet. Da habe ich gedacht, okay, Bibliothek, ich habe das schon immer gerne gelesen und es ist ja auch ein Tariflohn. Dann

0: 36:23solltet ihr ja auch einen Job suchen, wo du zum Beispiel an den Wochenenden nicht arbeiten musst, dass du in die Versammlung gehen kannst, um predigen gehen kannst, wo du abends nicht arbeiten musst, dass du auch in die Zusammenkünfte gehen kannst und so. Und da habe ich gedacht, okay, dann suche ich mir halt auch einen Job in der Bibliothek. Und Bibliotheken gibt es aber nicht ganz so viele. Also da hast du jetzt nicht pro Stadt zehn Stellen oder so. Und da habe ich mich dann an verschiedenen Orten beworben. Und da hat sich dann tatsächlich die Chance aufgetan, nach Kreis zu ziehen.

0: 36:50Damals hat meine Oma in Kreis gewohnt, also die Mutter von meinem Vater. Und das ist die Heimatstadt von meinem Vater. Und das wollte mein Vater, dass ich dorthin ziehe. Und das wäre quasi für mich eigentlich die Chance auch gewesen, auszusteigen. Und ich habe das nicht genutzt. Ich habe gedacht, okay, ich habe ja trotzdem irgendwo noch an dem Glauben gehangen. Also ich habe es trotz der Glaubenskrise, ich habe den Glauben nicht losgekriegt. Ich habe dann immer gedacht, naja, vielleicht ist es einfach meine Mutter das Problem. Und wenn ich mich von meiner Mutter löse, dann wird es besser. Und dann habe ich mich in der Nähe von Leipzig beworben für eine Ausbildung.

0: 37:23Und wir haben auch damals immer hier Ausflüge hergemacht, so Pioniertagen, also wo wir dann gesammelt als große Gruppe hierher gefahren sind und hier ganz viel gepredigt haben, die Stadt einmal durchgepredigt quasi, weil hier nicht so viele Verkündiger sind. Das ist so ein Hilfenotgebiet, sagt man. Da kannte ich ja schon ein paar Leute aus Leipzig, ein paar Zeugen. Meine Mutter hatte eine Freundin in dem einen Ort, und da war halt eine Stelle ausgeschrieben. Dann habe ich mich in dem Ort beworben und bin dann letztendlich auch dahin gezogen. Da habe ich neben der Freundin von meiner Mutter gewohnt, die auch Zeugin war.

0: 37:54Die hat mich immer mit in die Zusammenkünfte genommen nach Leipzig usw. So habe ich quasi meine Chance vertan, auszusteigen, weil ich mir unsicher war, weil ich gedacht habe, ich habe meinen Vater immer so mit böse assoziiert und den Glauben immer mit gut. Also man hat halt immer so ein schwarz-weiß-Denken. Und ich dachte, okay, ja, das mich jetzt gegen den Glauben stellen, so, nee, das kann ich nicht und das ist ja mein Glauben und ich bin ja kein Verräter. Also so, ich konnte halt einfach nicht. Und er war dann natürlich auch ein bisschen sauer, bla bla.

0: 38:20Na ja, und dann bin ich hierher gezogen und habe dann die Versammlung hier besucht und das lief auch erst mal besser. Also ich habe dann tatsächlich eigene Wohnung gehabt mit 16, also gerade erst 16 geworden, ausgezogen, die Ausbildung angefangen, eigene Wohnung gehabt, neue Versammlung, neues Umfeld, noch mal von vorne, also richtig von vorne angefangen. Und mir ging es dann auch besser. Und das Problem war, ich war vorher, hatte ich ja durch mein Doppelleben, war ich zum Beispiel mal Clown mit einer aus meiner 10. Klasse und wurde natürlich erwischt, weil ich da wenig Talent habe. Und das war so furchtbar. Und da musste mein Vater mich

0: 38:57damals von der Polizei abholen und so weiter. Also ich erzähle es wirklich runtergebrochen, aber es ist eine lustige Geschichte. Wenn ihr das ausführlich lesen wollt, könnt ihr das in meinem Buch lesen. Jedenfalls wurde ich erwischt und das hat natürlich Konsequenzen, weil stehen ist eine Sünde. Und das wurde dann natürlich auch in der Versammlung kommuniziert und dann wurde mir mein ungetaufter Verkündiger entzogen. Und das ist so ein Status, den hast du vor der Taufe. Also du musst quasi, wenn du bei den Zeugen was werden willst, musst du so gewisse Prozesse durchlaufen und musst dein Leben überprüfen lassen, musst zeigen, dass du genug predigen gehst, was du für einen Lebenswandel hast, was hast du für Freude, mit wem hast du Kontakt,

0: 39:34was machst du mit deiner Zeit und so weiter. Und das wurde mir aberkannt. Das heißt, die Ältesten oder ein Ältester stand auf der Bühne vor der Versammlung, vor 120 Leuten und hat gesagt, Sophie ist ab sofort keine ungetaufte Verkündigerin mehr. Das ist doch kontraproduktiv, weil dann würde man dich ja wegbringen von deinem Glauben. Das ist eine Disziplin in der Maßnahme. Dass du noch mehr machst?

0: 39:55Genau, dann muss ich mich ja wieder beweisen. Dann wissen ja alle, ich habe Scheiße gebaut. Und das ist richtig schlimm. Das ist total demütigend, wenn das komplett von der Bühne runter gesagt wird und alle wissen, boah, was haben die jetzt angestellt. Dann musst du Gummi geben. Dann weißt du, oh fuck, die gucken dich ja auch alle so an. Du bist schon halb aussätzlich und das geht halt nicht.

0: 40:15Der Glaube ist ja dein Leben, du bist ja abhängig von der Religion. Das ist ja kein Grund zu gehen, das wäre kein Ausschluss. Hat er auch kommuniziert, wieso? Nee, den Grund sagen die nicht. Das wäre super indiskret. Aber die sagen halt einfach, du bist kein ungetaufter Kündiger mehr. Das ist sowohl für dich als auch für die anderen quasi wie eine Warnung, dass die wissen, okay, die müssen, wenn die mit dir Kontakt haben, ein bisschen aufpassen, weil du gerade kurz vor dem Abfall bist. Und wenn du in eine neue Versammlung kommst, wirst du natürlich angekündigt mit dem,

0: 40:38was du halt bist. Also dann wird entweder gesagt, herzlich willkommen, Schwester sowieso, oder wird unsere Versammlung als ungetaufter Kündigerin dienen und so. Und daran erkennen die Neuen in der neuen Versammlung deinen Status. Und ich wusste, wenn ich in die neue Versammlung gehe, die kriegen ja meine Akte. Und in meiner Akte steht, dass ich kein ungetaufter Verkündiger bin mehr. Und ich wusste, wenn ich dort jetzt hingehe in die neue Versammlung und die wissen, ich bin nicht mal ungetaufter Verkündiger, die wissen mit mir stimmt was nicht. Die wissen, dass ich Scheiße gebaut habe oder so.

0: 41:12Und dann haben die zum Glück während dem Wechsel von der alten in die neue Versammlung mir den ungetauften Vorkündiger zurückgegeben, dass die in der neuen Versammlung das nicht mitgekriegt haben. Dass ich quasi in der neuen Versammlung angekündigt wurde mit ich bin ungetauft Vorkündigerin. Was auch das ist schon zu wenig. Ja, also weil die meisten mit 16 schon getauft sind. Aber ich habe das ja nicht gemacht, weil die Bedingung für meine Taufe war, dass ich den Kontakt zu meinem Vater abbreche, weil er ausgeschlossen ist. Und deswegen habe ich ja auch dann so ein bisschen gehadert und so, aber in der neuen Versammlung, neue Versammlung, neues Glück, neue Power, habe ich dann gedacht, okay, ich gebe jetzt richtig Gummi, meine Mutter ist weg, ich hänge mich total rein,

0: 41:50habe mich reingehangen und habe mich dann mit siebzehn taufen lassen. Bedingung für die Taufe, Kontaktabbruch zu Papa habe ich gemacht und dann ging es wieder bergab. Und da habe ich dann gemerkt, okay, ich falle in ein Riesenloch, ich bin wieder wahnsinnig depressiv. Ich hab mich an die Regeln gehalten. Ich hab alles gemacht, was sie... Ich hab jetzt wirklich versucht, hier brav zu sein. Und mir geht's dabei so beschissen. Warum?

0: 42:12Und das war dann so der Knackpunkt, wo ich gemerkt hab, okay, irgendwas muss ich ändern im Leben. Weil ich kann ja nicht mein ganzes Leben lang unglücklich sein, wenn ich mich ja offiziell an die Regeln halte. Okay, du hast jetzt gesagt, mit 17 hast du dann so verstanden, auch jetzt geht's mir scheiße, egal wie sehr ich mich bemühe, es funktioniert nicht.

0: 42:27Ja, das war halt ein Prozess. Du hast ja mit der Taufe, ich muss dazu sagen, das ist nicht, eine Taufe ist nicht nur eine Taufe, sondern die Taufe ist für den Zeugen Jehovas der wichtigste Tag im Leben. Also das ist wichtiger als deine Hochzeit. Das ist quasi deine Heirat mit Gott, Taufe und Hingabe. Du gibst Gott dein Leben hin. Also du schenkst quasi dein Leben Gott. Das ist wichtiger als alles andere. Wichtiger als die Geburt Deiner Kinder, wichtiger als alles. Und das hat halt einen Stellenwert. Du bist quasi erst vollwertig als Christ, wenn Du getauft bist. Und sie sagen aber auch, dass erst dann, Satan macht ja immer Jagd auf Dich. Also das ist ja eigentlich die komplette Geschichte der Zeugen. Satan

0: 43:07macht immer Jagd auf Dich, egal in welchem Stadium. Und einerseits, wenn Du zum Beispiel getauft bist, hast Du mehr Segen von Gott, aber er jagt dich auch mehr. Und dann werden die Versuchungen erst richtig hart. Und ich dachte mir, oh mein Gott, wie hart soll es denn noch werden? Es war vorher schon total scheiße. Also noch mehr Härte. Aber ich habe mich auch auf die Segnung gefreut. Ich dachte, okay, wie stellst du... Also ich dachte so, ich gehe da raus aus dem Becken und ich bin total stark und ich habe so Power und ich bin so richtig strong. Und ja, ich mache... Und das ist auch nett, aber das ebbt dann halt auch ab. Und dann denkst du dir, okay, was ist jetzt anders? Eigentlich nichts.

0: 43:43Außer, dass ich halt jetzt ausgeschlossen werden kann, wenn ich Scheiße baue. Vorher als ungetauft Verkündiger, kannst du ja nur den ungetauften Verkündiger weggenommen bekommen. Also was mir passiert ist. Aber du kannst nicht ausgeschlossen werden. Du kannst nur ausgeschlossen werden, wenn du getauft bist, wenn du vollwertig bist. Verrückt. Das heißt, du kannst immer ein Teil davon sein im Prinzip, wenn du nicht getauft bist? Genau, aber dann bist du halt auch nicht vollwertig. Ja, okay. Hast du einen Unterschied gemerkt, in dem wie man mit dir umgegangen ist, außer dass man auf einer Bühne degradiert wurde? Nee, also du bist schon, also als ungetauft Verkündiger, das sind zum Beispiel so Jugendliche oder Kinder,

0: 44:17also die Erwachsenen sind alle getauft. Wenn du getauft bist, bist du Schwester, wenn du ungetauft bist, bist du nicht Schwester. Sondern dein Vorname. Du bist halt einfach nicht vollwertig. Also ich glaube, du kannst zum Beispiel kein eigenes Gebiet haben für deinen Predigtbereich oder so. Ich weiß nicht, kann auch sein, die haben das geändert oder ich sage was falsch. Aber zum Beispiel wenn du getauft bist, kriegst du auch erstmal dein richtiges Blutdokument. Also vorher hattest du ja nur den kleinen Blutausweis und da kriegst du dann auch den richtigen. Was ist denn ein Blutdokument? Dass du keine Bluttransfusion bekommen darfst, wenn du einen Unfall hast. Und warum? Weil Gott will, dass du dich von

0: 44:53Blut enthältst, weil er Leben gibt und Leben nimmt. Achso und das darf man nicht in Menschen Hände geben? Nein, du musst dann sterben. Für Gott. Das ist wirklich so. Und diesen Wisch trägst du dann immer mit dir rum, so dass man weiß, fass mich bitte nicht an. Genau, also als Kind hatte ich den immer dabei, als Erwachsene hatte ich den dann nicht dabei, weil du ja selber auch Aussagen machen kannst. Du drückst dann auch Leute ein für dich, deine Notfallkontakte und so. Aber ja, also du kannst, das ist auch ein Ausschlussgrund, wenn du eine Bluttransfusion bekommst, obwohl du das nicht darfst.

0: 45:25Ach krass. Das ist das, was die meisten Leute tatsächlich wissen, dass Zeugen Jehovas kein Blut nehmen. Echt? Das ist mir tatsächlich neu. Ja, also da sind auch schon viele gestorben, weil die darauf verzichtet haben. Das ist auch für mich ein Punkt, wo ich dann gesagt habe, ich wäre immer gern gestorben für Gott, weil du ja immer so einen Märtyrer-Charakter auch ein bisschen an den Tag legen sollst und du sollst ja auch Jesus nachahmen.

0: 45:51Also was gibt es Besseres als zu sterben für Gott? Aber ich habe dann auch überlegt, wenn ich mal Kinder habe, denen müsste ich ja auch so einen Blutausweis mitgeben. Und ich würde es niemals über das Herz bringen, wenn ich mal Kinder habe, die sterben zu lassen. Im Leben nicht. Ich würde auch zu denen, wenn die sich gegen die Religion entscheiden, ich würde niemals den Kontakt abbrechen. Darüber habe ich mit 13 nicht nachgedacht, aber mit 17, 18 habe ich dann darüber nachgedacht. Okay, jetzt hast du ganz viel darüber berichtet, dass du getauft wurdest. Du

0: 46:19warst dann vollends ein Mitglied. Dann hast du für dich festgestellt, es hat sich gar nicht viel verändert. Und dann muss ja irgendwo der Moment kommen, wo du gesagt hast, okay, eigentlich will ich das Leben gar nicht mehr so weiterführen. Wie war da der Ausstieg? Also der Ausstieg an sich war echt ein langer Prozess. Also dadurch, dass du ja weißt, dass wenn du dich dagegen entscheidest, keiner mehr mit dir redet. Also die brechen wirklich, also man muss sich das so vorstellen, du triffst die Leute an der Kasse, die gucken dich nicht mal an. Die wissen, wer du bist, aber du bist für die wie tot. Also da gibt es auch keine Ausnahmen.

0: 46:50Egal, ob das deine Eltern sind, deine Kinder sind, deine Geschwister sind, deine Freunde, mit denen du 20 Jahre lang Tür an Tür gewohnt hast, egal. Und das ist einem klar. Und deswegen überlegt man sich das auch dreimal, ob man da rausgeht oder nicht. Und ich glaube, das ist auch einer der Gründe, warum viele Leute nicht rausgehen, weil die ganzen Familien noch drin sind und weil die es vielleicht zwar nicht mehr glauben, aber weil die genau wissen, die verlieren ihr komplettes soziales Umfeld. Und dadurch, dass du ja vorher kaum Kontakte hast außerhalb der Gemeinschaft, weil die

0: 47:19ja alle von Satan besessen sind oder böse sind, dann hast du natürlich nicht wirklich ein soziales Umfeld außerhalb der Gemeinschaft. Das heißt, im Fall eines Ausstiegs stehst du halt alleine da. Und das schafft man nicht. Und deswegen, ich habe ja dann auch, also Doppelleben hat wieder reingekickt bei mir. Ich habe dann Fahrschule gemacht und habe in der Fahrschule meinen heute noch besten Freund kennengelernt, Stiefel. Und Stiefel ist schwul.

0: 47:48Und das war ein Riesending für mich, weil Homosexualität ja verboten ist bei Jehovas Zeugen. Und der war total extrovertiert. Der wollte immer mit mir Zeit verbringen. Ich habe das immer versucht, das ein bisschen abzublocken. Aber ich war dann irgendwann beim Scham erlegen und habe dann doch immer mal mit ihm so, also wir haben auch in der Nähe gewohnt und sind dann immer von der Fahrstuhl zusammen nach Hause gelaufen und so.

0: 48:09Und ich mochte den total. Und das war für mich so ein totaler Zwiespalt, weil ich ihn ja eigentlich nicht mögen durfte, weil er ja schwul ist. Und da habe ich gedacht, hä? Aber eigentlich ist er doch total nett. Also was ist denn jetzt das Problem? Also ich hatte noch nie die Situation, dass diese Glaubensgrundsätze mit meinem Instinkt kollidiert sind.

0: 48:31Und Stiefel, muss ich sagen, ist auch eigentlich der einzige Freund aus meinem alten Leben, nee, das stimmt nicht, aber ist der einzige Freund, der nicht mein Zeugen war aus meinem alten Leben, mit dem ich heute noch Kontakt habe. Und das, muss ich sagen, war am Ende echt hilfreich, auch wenn der das nicht wusste. Ich habe dem das nicht gesagt, weil mir das peinlich war. Aber dann später habe ich ihm das mal gesagt, dass ich ausgestiegen bin. Und das war für mich extrem hilfreich, weil ich so jemanden hatte. Und der hat mich super aufgefangen. Auch seine Eltern. Also der war sich gar nicht der Tragweite bewusst. Ich war mir selber nicht der Tragweite bewusst. Aber das war schön, so ein Netz

0: 49:06dann da zu haben. Und das kann ich eigentlich auch nur jedem irgendwie raten, dann sich wirklich Kontakte zu suchen, die unabhängig von der Gemeinschaft sind. Weil das ist hart, wenn du sagst, du gehst, ab dem Moment bist du für die Menschen mehr als tot. Weil wärst du nur tot, würden sie dich ja im Paradies wiedersehen. Aber dadurch, dass du ja dich gegen den Glauben entscheidest, verdirbst du dir die Chance auf das Paradies. Und das ist schlimmer als der Tod. Und genauso wird Ich habe versucht, mir diesen Schmerz vorzustellen und ihn vorzufühlen. Also das im Vorfeld schon zu durchleben.

0: 49:46Ich habe richtig versucht, mich im Geist in diese Situation hineinzuversetzen. Wie ist das denn, wenn ich die Leute an der Kasse treffe und die gucken mich nicht an? Das sind ja wirklich auch Menschen, die man sehr liebt. Man kennt die ja teilweise ein Leben lang. Das war ja immer eine Glaubensfamilie und die nehmen das auch sehr ernst. Also man hat wirklich eine sehr enge Gemeinschaft, damit eben auch keiner ausbricht. Und ich habe versucht, mir diesen Schmerz im Vorfeld schon mal, mich da reinzufühlen, weil ich wusste ja, es wird so kommen, damit es mich da nicht umhaut und damit ich das

0: 50:18dann aushalte und damit ich das dann kann. Und ich habe mir das vorgestellt, ich habe mich da reingesteigert quasi und das versuch schon mal zu erleben und auch mich irgendwo somit schon von den Leuten zu verabschieden, auch wenn es noch gar nicht passiert ist. Also ich habe im Vorfeld mich schon im Kopf mental versucht davon zu lösen, obwohl ich körperlich noch drin war. Und viele die schreiben zum Beispiel Briefe und schreiben einfach einen Brief, hey hier ich will aussteigen und so oder tun sich noch mal ein Gespräch an mit Ältesten. Und also ich bin total überrascht, wie viele das machen, weil ich wusste, ich werde es nicht schaffen, damit irgendjemand ein Gespräch zu führen.

0: 50:56Mit Ältesten schon gar nicht. Weil ich so weich bin, ich knicke komplett ein. Die müssen mir einwandfreches Gewissen machen. Ich schaffe das nicht. Ich würde das niemals durchziehen. Wenn da sich einer mit mir hinsetzt und sagt, du weißt aber schon, das Hammer geht und dann kommt und du dann stirbst oder dass Jehova sehr enttäuscht von dir ist, du hast dein ganzes Leben und jetzt liest doch mal den und den Bibeltext und blablabla und halte durch, ist nur noch eine kurze.

0: 51:16Und guck doch mal, wen du hier alles enttäuscht und so. Ich wäre komplett flupp angeknickt und hätte gesagt, ihr habt recht, ich bin so dumm. Und das wusste ich ganz genau. Deswegen habe ich das niemandem erzählt und habe einfach das so gemacht, wo mir das dann wirklich klar war, dass ich das will. Und das hat lange gedauert, bis mir das wirklich richtig zu 100 Prozent klar war, weil ich wusste, wenn ich den Schritt gehe, ich kann nicht zurück. Ich kann nicht sagen, morgen, sorry, ich habe einen schlechten Tag, nehmt mich mal wieder

0: 51:43auf. Das funktioniert nicht. Also wenn du den Schritt gehst, dann musst du dabei bleiben. Das musst du aushalten und das musst du schaffen. Das hat super lange gedauert, weil ich auch wirklich, es ist wie eine Gehirnwäsche. Man kann es nicht anders sagen. Du bist gehirngewaschen und du musst erst mal klarkommen. Und du kommst nicht klar, wenn du ständig wieder hinrennst und wenn du

0: 52:03dich wieder mit der ganzen Scheiße beschäftigst. Das ist einfach, das tut dir nicht gut. Und wenn du versuchst, auf deine eigene Stimme zu hören und herauszufinden, okay, Moment, will ich jetzt der Mensch sein, der sein ganzes Leben nach den Regeln von der Organisation ausrichtet, deren Inhalt ja gar nicht darin besteht, dass du selber glücklich bist, sondern die ja ganz andere Ziele verfolgt. Also es geht denen ja nicht um das Glück des Individuums. So, das geht denen ja um ein ganz anderes Ziel. Und du als Mensch, wie du dich fühlst, das ist den Leuten völlig egal.

0: 52:37Weil ich habe das gemerkt nach meiner Taufe, das war okay, dass ich getrauert habe, dass ich keinen Kontakt mehr zu meinem Vater habe. Aber nicht auf ewig. Also irgendwann haben die sich auch gedacht, na jetzt ist aber mal gut. Also steh doch zu deinem Glauben. Was ja klar ist. Ich habe mich selber dafür entschieden. Ich wusste, was ich tue und ich wusste, es ist richtig. Also sollte ich mich auch so verhalten und so fühlen. Aber warum habe ich mich denn nicht so gefühlt? Und diese Widersprüche musst du erstmal verstehen. Warum fühlt sich etwas so falsch an, was eigentlich richtig ist?

0: 53:07Und da sind viele andere Sachen auch. Zum Beispiel mit dem Weltuntergang. Die glauben ja an den Weltuntergang, haben den schon mehrfach prophezeit. Zum Beispiel 1914, 1975. Und da haben die Leute damals rein, weil sie ihre Häuser verkauft, ihre Jobs gekündigt. Die standen ohne irgendwas da, weil die gedacht haben, yeah, jetzt kommt der Weltuntergang und let's go. Und was ist passiert? Gar nichts. Die standen vor dem Nichts. Die haben teilweise ihr ganzes Leben lang, sind Predigen gegangen, haben sich aufgeopfert, haben gelitten, haben sich Sachen gefallen lassen für den Glauben und dann zack, ja Weltuntergang kam nicht, alles so wie vorher, die standen vor dem Mist und irgendwann sind sie gestorben. So und ich habe mir gedacht, sorry, ich will

0: 53:49eigentlich nicht, dass mir das auch so geht. Seit ich klein bin, gehe ich jeden Tag zum Fenster, gucke ob die Welt brennt und es brennt immer noch nicht und es geht immer noch weiter. Wer garantiert mir denn, dass dieser Weltuntergang kommt und wer garantiert mir denn, dass ich überhaupt ins Paradies komme? Weil ganz ehrlich, auf meiner Uhr sind schon recht viele Sünden und es werden auch nicht weniger. Du hast keine Garantie. Und ich dachte mir immer, für mich war der Inbegriff des Lebens, war Leiden. So im Hier und Jetzt Leiden, damit ich später im Paradies glücklich sein kann.

0: 54:18Du sagst, entweder man kommt ins Paradies oder man kommt nicht ins Paradies. Gibt es keine Zeit, in der man zwischendrin sozusagen in der Bestrafung ist und dann später ins Paradies kommt? Nein, also die Zeugen Jehovas glauben an keine Hölle. Es gibt keine Bestrafung. Also die Bestrafung ist nicht ins Paradies zu kommen oder halt im Weltuntergang zu sterben. Und wo ist man, wenn man nicht im Weltuntergang stirbt oder im Paradies? Also es gibt entweder Tod, Paradies oder 144.000 die im Himmel sind. Das sind aber die extra auserwählten, also denen würde ich jetzt auch nicht zu viel Bedeutung beimessen. Das heißt aber die sind über dem Paradies oder

0: 54:55was diese 144? Die sind im Himmel mit Jesus und die regieren über die Erde dann. Die regieren quasi über das Paradies. Was auch keinen Sinn macht, weil warum muss ein Paradies regiert werden? Komisch, ne? Aber und die alle Weltlichen sterben im Prinzip? Genau, also alle Weltlichen sterben. Also ich habe als Kind, habe ich ja immer gelernt, dass eigentlich jeder stirbt, der kein Zeug Jehovas ist. Also dass jeder quasi, der die Chance hatte, Zeug Jehovas zu werden, sich aber bewusst dagegen entschieden hat, dass der stirbt. Später dann habe ich aber, also hieß es ja, Gott guckt immer ins Herz und so. Und ich dachte immer, ja woran macht er das denn fest, wer gut ist, wer böse ist.

0: 55:29Und ich dachte immer, dass nur die Zeugen, also dass nur wir quasi gerettet werden. Und ja, also so eine richtige Regel gibt es da wohl auch nicht. Aber eigentlich ist es so, alle, die bewusst keine Zeugen Jehovas sind. Also bei dir hat hier schon mal jemand geklingelt und du hast gesagt nein danke, dann hast du quasi Jehova abgelehnt. Tschüss. Aha, okay und damit bin ich jetzt automatisch. Und damit bist du tot.

0: 55:49Aber gut, wie gesagt, es kann auch sein, die haben das jetzt ein bisschen gelockert und sagen sich ja er guckt jetzt mehr ins Herz. Aber Männer, die bei männlichen Personen liegen, werden das Königreich Gottes nicht erben. Und Diebe und Hucher und Ehebrecher auch nicht. Also wenn ihr Sex vor der Ehe habt, sorry. Ja, jetzt habe ich dich aber unterbrochen. Du warst gerade dabei zu erzählen, wie du dann letztendlich raus bist. Der Inbegriff des Lebens ist eigentlich immer Leid. Also du hast quasi, also zum Beispiel wenn ich den Kontaktabbruch

0: 56:14mit meinem Vater oder keine Freunde haben, gemobbt werden und so. Also man hat ja auch immer sich dann Symbolbilder aus der Bibel gesucht. Sei wie, was Petrus, Paulus, keine Ahnung. Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, dann halt doch noch die andere hin und so. Immer so Sachen, so nach dem Motto, du musst leiden, du musst durchhalten, du musst Selbstbeherrschung haben und Demut haben und Güte und alles Mögliche. Du musst dich quasi erniedrigen, damit Gott dich erhöht und so. Du musst ein Leben führen voller Entbehrungen, damit du irgendwann im Paradies dann glücklich bist.

0: 56:45Also quasi jetzt ein Minusgeschäft, aber irgendwann dann kommt der Lohn. Und was ist denn, wenn das gar nicht passiert? Dann habe ich mich jetzt hier tot gemacht für nichts. Und ich hatte ja meinen Charakter schon immer irgendwie in mir. Der war schon immer irgendwie da. Und dann war ich natürlich 17 und habe versucht, Männer kennenzulernen, die ich potenziell heirate. Und da gab es einen, mit dem habe ich mich dann zwei oder dreimal getroffen. Man trifft sich ja auch nur im Predigtdienst. Man darf sich ja auch nicht alleine treffen. Also es müssen immer quasi Aufpasser dabei sein. Genau, also im besten Fall gehst du zusammen predigen, lernst dich über das Predigen kennen

0: 57:21und bist nie alleine in einer Wohnung, wo zum Beispiel keiner mehr ist oder so. Also darfst mit dem anderen Geschlecht nicht alleine in einer Wohnung sein, weil man könnte sich ja bespringen. Und da ist es natürlich ein bisschen schwer, sich ordentlich kennenzulernen, wenn du halt immer nur in Gesellschaft irgendwie bist. Und es hat alles so einen sehr, sehr verbindlichen Charakter, weil die heiraten auch alle sehr, sehr zeitig, dadurch, dass ja kein Sex vor der Ehe erlaubt ist. Also das war dann so das Leben, was ich vor Augen hatte. Und es hat mir tatsächlich gar nicht gefallen, die Vorstellung. Wie kann ich nur? Und ja, und so andere Sachen halt, wie dieses mit, du darfst dich ja auch nicht scheiden lassen, wenn, also es sei denn, einer von beiden begeht Horerei und ja, oder dann wird, also wird

0: 58:02halt der andere dann ausgeschlossen. Oder was ist, wenn du ein Kind hast, das wird ausgeschlossen, musst du auch Kontakt abbrechen mit den Bluttransfusionen, mit allen möglichen Sachen einfach. Also das hat so viel einfach dann da kam zusammen mit dem Weltuntergang und so, dass ich gesagt habe, ich sehe, also ich kann das nicht mit mir, das fühlt sich nicht an nach mir. Also ich hatte zwar keinen Vergleich, so ich habe ja kein anderes Leben, ich kenne ja kein anderes Leben, aber ich wusste, das bin ich nicht, das kann ich nicht machen. Ich bin jetzt ja schon so unglücklich, wie unglücklich soll ich noch werden, wenn ich

0: 58:34dann noch weiter voranschreite? Und dann habe ich in mir Listen geschrieben, die Leute aufgeschrieben, die ich verliere, also die mir wichtig sind, die ich verliere, und auf die andere Seite, die ich zurückbekomme. Also zum Beispiel werde ich auch eine meiner besten Freundinnen auch heute noch, die wurde auch ausgeschlossen, kurze Zeit nach meiner Taufe tatsächlich. Also das war dann auch wieder so ein Punkt, wo ich dachte, okay krass, das ist jetzt seit vielen Jahren meine beste Freundin. Die entscheidet sich jetzt dagegen und die verliere ich jetzt auch. Und ein Gedanke war auch, was will ich denn in einem Paradies, wenn da keine Menschen sind, die ich liebe. Also

0: 59:07wenn zum Beispiel mein Vater dort nicht ist oder wenn die Freundin dort nicht ist oder andere, die über die Jahre halt rausgegangen sind. Aber zum Beispiel meine Mutter ist dort, die ich nicht mag. Was bringt mir dann das Paradies? Will ich da wirklich hin, wenn da keiner ist, den ich mag? Als dann die Entscheidung irgendwann innerlich gefallen war, habe ich gedacht, okay, wie mache ich das jetzt am dümmsten? Dann war einmal im Jahr das Gelechtnismahl, also das Vierabendmahl des Herrn, wo sie quasi da gedenken.

0: 59:35Das ist immer so Ende März, Anfang April. Und da bin ich dann ein letztes Mal hin in die Zusammenkunft, habe mich schick gemacht und so. Und habe nach den Vorträgen dann den wenigen, die mir wichtig waren, habe ich gesagt, dass sie mich heute zum letzten Mal sehen, dass ich gehen werde, dass ich nicht wiederkomme. Und dann gab es natürlich ganz viel Tränen, wir haben geweint. Ein paar haben es glaube ich auch schon vorher gemerkt. Also der Vater von der Familie mit denen ich viel zu tun hatte, den hatte ich auch schon vorher so ein bisschen angeteasert. Die hatten auch einen Sohn, der war ausgeschlossen, die

1: 00:10hatten den auch verstoßen und so. Also die waren auch mit der Thematik vertraut. Ja, aber da habe ich, also mit dem hatte ich da vorher schon geredet. Das war auch für die schlimm, das wusste ich auch, aber ich habe mich schon vorher halt gelöst und habe das dann selber so entschieden und hab da auch eine Freundin in der Nachbarversammlung, der hab ich das dann auch gesagt und so. Und es gab super viel Tränen. Und dann bin ich aber da raus und ich wusste, okay, ich geh jetzt raus und ich komm nie wieder.

1: 00:35Hab ich da meinen Abgang hingelegt. Und dann, ja, war ich dann zu Hause und ich dachte erst mal, okay, cool. Also, ne, ich hatte erst mal so ein Hi, so krass, was kommt jetzt? Aber dann hat sich das natürlich verbreitet wie so ein Lauffeuer. Und dann gingen die Nachrichten los. Und ich wusste, wenn einer jetzt, wenn zum Beispiel die Ältesten kommen und mit mir reden wollen, ich knicke ein, ich schaff das nicht, ich kann das nicht. Ich war schon immer so anfällig für Schuldgefühle, ich hätte es nicht geschafft.

1: 01:04Ich wusste, ich kann mit denen nicht reden. Und ich stand natürlich auf meiner Tür, die Ältesten haben geklingelt und so und wollten rein und da habe ich gesagt, nee, ich habe keine Zeit und so. Und ich hatte aber dann immer Angst. Bei mir hat sich eine ganz schlimme Paranoia aufgebaut, dass ich irgendjemanden treffe. Die Freundin von meiner Mutter hat ja nach wie vor neben mir gewohnt. Direkt einen Eingang weiter. Vor der hatte ich auch richtig Angst.

1: 01:26Die war auch ein bisschen schizophren. Die hat mir dann auch manchmal komische Briefe geschrieben. Da habe ich dann immer meinen besten Freund Stiefel gesagt, wenn ich zum Beispiel einkaufen musste. Dann ist er immer mit mir einkaufen gegangen, damit ich nicht alleine einkaufen gehe, weil ich mir nicht getraut habe, alleine rauszugehen. Ich habe mir neue Handynummer besorgt und E-Mail-Sachen, alles so abgeblockt von Leuten, was ich da alles versucht zu cutten, dann irgendwann die ganzen Sachen entsorgt von

1: 01:50früher. Dann einen neuen Job gehabt, weil die Ausbildung war dann später fertig und dann wie gesagt neue Arbeit gefunden und dann auch tatsächlich umgezogen, eine kurze Zeit später. Hattest du dann irgendwann das Gefühl der Erleichterung, dass du endlich diesen ganzen Druck loswerden konntest? Sehr spät. Also die ersten fünf Jahre nach dem Ausstieg habe ich mich erstmal nur so ein bisschen versteckt.

1: 02:16Ich musste ja auch erstmal so normale Sachen lernen, so wie so Leben geht einfach. Also ich habe ja dadurch, dass mit meiner Mutter das schon so schwierig war und wir auch immer dann so arm waren und so, auch nicht wirklich. Ich hatte ja eigentlich nur in meiner kleinsten, kleinsten Kindheit ein geordnetes Elternhaus und wusste ja gar nicht, wie funktioniert denn so ein normales, gesundes, glückliches Leben eigentlich. Und hab dann mir natürlich erst mal neue Freunde gesucht, hab versucht, so ein bisschen

1: 02:44klarzukommen einfach, mich zu entwickeln, Leute kennenzulernen und einfach auch erwachsen zu werden. Wenn du keine Eltern hast, die dir Input geben, das ist schon alles schwierig. Du hast ja niemanden, der dir jetzt sagt, das ist jetzt eine gute Idee oder lass das mal lieber bleiben. Solche Sachen musst du einfach dann selber lernen und das ist schon anstrengend. Und dadurch, dass du ja noch aus einer völlig anderen Welt kommst, musst du ja auch erst mal überlegen, was ist jetzt eigentlich mein Weltbild? Bin ich noch gläubig oder halt nicht? Also zum Beispiel, ich dachte immer, wenn ich aussteige, die Typen regnet es vom Himmel. Ich dachte, die riechen das und die stehen direkt Schlange. Und das war natürlich nicht so.

1: 03:27Und dann dachte ich, okay, wie lernt man jetzt normale Männer kennen? Weil die Versammlungsmänner, da hab ich mich gefühlt, als hätte ich quasi die Oberhand. Weil ich halt einfach, also für mich waren das halt einfach Waschlappen. Also am Beispiel des Types hier zum Beispiel. Die haben ja alle so wenig Erfahrung gehabt wie ich, sagen wir es mal so. Die hatten ja alle noch nie Sex, die haben alle noch nie irgendwas gemacht, also offiziell was erregt. Aber dann in der Welt, da bin ich ja der Loser.

1: 04:01Weil ich kann überhaupt nicht mitreden. Ich weiß nicht, wie man ein Date hat. Ich weiß nicht, wie man einen ersten Schritt macht. Ich weiß nicht, wie Sex geht. Ich weiß gar nicht, wie irgendwas geht. Wie bläst du denn jemand ein? Keine Ahnung. Also wie funktioniert das? Zum Beispiel habe ich mich einmal mit jemandem getroffen, und der hat ja mein Cappuccino bezahlt.

1: 04:20Und ich habe mich total verpflichtet für den, weil der mir mein Cappuccino bezahlt hat. Heute würde ich denken, hä? Da ist Kaffee, Alter! Aber, also, ne? Das ist keine Ahnung so. Oder was ist üblich, was ist unüblich? Oder auch mit Party. Dann hatte ich eine Freundin aus der Berufsschule,

1: 04:38mit der bin ich ja immer mal feiern gegangen. Kurze Rock. Ich hatte vorher nie kurze Röcke an. Ich habe mich gefühlt, als würde ich ein übelstes Verbrechen begehen, weil ich einen kurzen Rock an hatte. Oder mit dem Rauchen. Ich habe ja schon immer mal heimlich geraucht und habe mich da auch schon gefühlt, als wäre ich der schlimmste Mensch der Welt. Und dann so etwas

1: 04:56öffentlich zu machen, mich sehen Leute. Also Leute sehen mich dabei, wie ich sündige am helllichten Tag, mitten auf der Straße. Nur, dass es die nicht juckt. Aber in meinem Kopf, ich habe mich immer total beobachtet gefühlt. Ich war richtig paranoid und es hat super lang gedauert, bis das weniger geworden ist. Auch bis man so diese Scham und diese Schuldgefühle zurückschrauben kann. Und dann natürlich, wenn du neue Leute kennenlernst, so erzählst es nicht. Du sagst nicht Hallo hier übrigens, ich komme aus einer Sekte und ich weiß nicht so richtig, wie man viele Sachen macht. Ich habe auch die Hälfte von euren Filmen noch nie gesehen.

1: 05:27Ich weiß nicht, was ihr für Musik hört. Und ich kann übrigens die Hälfte eurer Wörter, die ihr benutzt, auch gar nicht, weil ich noch nie geflucht habe und weil ich so einfach nicht rede, aber macht doch mal was mit mir. Erklärt mich mal. Sag's ja nicht so. Und dann lernst du Leute kennen und versuchst natürlich, dass die, dass du möglichst unauffällig bist, dass die nicht merken, dass du komplett eine Mische hast und von einem anderen Planeten

1: 05:47kommst und versteckst dich eigentlich nur. Und mir war das immer super peinlich. Ich wollte nicht, dass das jemand weiß. Ich hab mich immer so dafür geschämt, dass ich quasi bei den Zeugen Jehovas war, weil ich ja wusste, ich wurde ja damals schon immer gemobbt. Und ich habe das immer damit assoziiert, dass Leute Zeugen Jehovas mobben. Ob ich jetzt ausgestiegen bin oder nicht, das hat für mich im Kopf keinen Unterschied gemacht. Und jetzt im Nachhinein, das ist mir blöd, ich hätte es mir auch viel leichter machen können.

1: 06:17Aber so war halt noch mein Gehirn quasi da drin in den Denkmustern. Und ich habe mich halt nicht getraut, das irgendjemandem zu sagen und hatte immer Angst, dass sich jemand rausfindet. Und irgendwann war so ein Moment bei mir auf Arbeit, dass meine Kollegen, die wussten das dann, die haben ja gemerkt, dass ich zum Beispiel mit Weihnachten keinen Plan habe. Und meine Chefin hat das dann mal jemand anders erzählt. Und da habe ich mich total geärgert. Ich habe gesagt, warum erzählst du das? Das kannst du doch nicht machen.

1: 06:43Das ist doch peinlich. Da hat die gesagt, hä, warum? Das hat die nicht verstanden, warum mir das peinlich ist. Und da habe ich erst mal selber dann so irgendwie gedacht, hä, stimmt. Also irgendwie muss ich mal was ändern. Das ist ja gar kein Grund, ich kann doch eigentlich nichts dafür. Und dieser Prozess, da erst mal so umzudenken und zu merken, okay, ich bin gar nicht schuld, dass ich anders bin und es ist auch nicht schlimm,

1: 07:10das waren fünf Jahre, fünf Jahre, die es gedauert hat. Und dann habe ich angefangen mit YouTube, weil ich gemerkt habe, okay, ich habe das Bedürfnis darüber zu reden, aber ich weiß nicht mit wem, weil ich traue mich nicht mit echten Menschen, die ich jetzt face to face sehe, darüber zu sprechen. Also mache ich das einfach mal im Internet, anonym, also klar mit Gesicht, aber das ist irgendwie weiter weg. So, ne?

1: 07:31Und mache das und dann einfach um mir das selber von der Seele zu reden und gucke, was passiert. Ja. Hast du das Buch parallel geschrieben oder kam das erst während deiner YouTube-Zeit? Nee, das kam später. Das Buch kam vor zwei Jahren erst. Und YouTube mache ich jetzt seit fünf Jahren. Würdest du sagen, dass das Buch nochmal dir eine andere Möglichkeit der Verarbeitung geboten hat? Total, auf jeden Fall. Und das Buch kam 2021 raus und das war nochmal ganz anders. Weil in dem Video kann ich selber entscheiden, was ich erzähle.

1: 07:59Aber wenn ich eine Biografie schreibe, da kann ich nicht einfach sagen, die Zeit von 9 bis 15 gefällt mir jetzt nicht, das spare ich jetzt mal aus. Darüber will ich jetzt nicht reden. Und ich habe zum Beispiel vorher nie so sehr über meine Depression oder über meinen Suizid geredet, weil mir das unangenehm war. Und mit dem Buch war das irgendwie nochmal so eine Lanze brechen, nochmal so ein neues, neuer Meilenstein, das erste Mal auch das so enttabuisieren, darüber mal ehrlich und offen reden. Das hat mir auch viel gegeben, muss ich sagen. Also das Buch war auch so ein Stück Therapie für mich, ehrlich gesagt. Du hast jetzt gerade eben gesagt, dass du YouTube machst.

1: 08:37Ist die Zielgruppe am Ende des Tages Aussteiger gewesen oder die weltliche Gesellschaft? Alles. Also Leute, die aussteigen wollen, Leute, die schon ausgestiegen sind, Angehörige und die breite Masse. Hast du heute Kontakt mit deinem Vater? Das ist ein sehr schwieriges Thema ehrlich gesagt. Also wir hatten danach haben wir dann Kontakt wieder aufgenommen und so, aber haben uns jetzt vor ich glaube einem halben oder dreiviertel Jahr nochmal, ich will nicht sagen zerstritten, aber sind nochmal arg aneinander geraten und ich habe zum Beispiel bei ihm das Gefühl, dass er halt nicht aufgearbeitet hat. Also es ist einfach viel passiert. Ich bin der Ansicht,

1: 09:13wenn du ein Kind hast, dann hast du einfach eine Verantwortung an erster Stelle für das Kind. Und wenn du verkackst als Elternteil, musst du dich deiner Verantwortung auch stellen. Und dann musst du auch aufarbeiten und es ist auch egal, ob das Kind erwachsen ist oder nicht. Du kannst nicht tun, als wäre nichts gewesen und kannst auch nicht von dem Kind erwarten, dass es so tut, als wäre alles schön. Und das fehlt mir so ein bisschen bei meinem Vater, ehrlich gesagt, die Einsicht und dass er das ja irgendwie mal reflektiert, was habe ich da eigentlich gemacht und dass er auch wächst und sich da auch weiter bildet und ich glaube er ist da irgendwo hängen geblieben. Also auch ich finde er ist auch teilweise recht unaufgeklärt und

1: 09:52uneinsichtig und überdenkt auch sein eigenes Verhalten null. Also auch wenn man dann Sachen anspricht, dann kommen wirklich so typische Reaktionen, dass dann einfach so Trotzreaktionen sind. Dann wird halt nach dem Gespräch, hat er mich dann den nächsten Morgen angerufen und hat einfach nur weil er verletzt ist, hat mir Sachen an den Kopf geknallt. Also zum Beispiel, ja naja du musst aufpassen, dass du nicht wirst wie deine Mutter, so kaltherzig oder du warst schon als Kind so, du wolltest immer nur im Mittelpunkt stehen oder so richtig gemeine Sachen, einfach nur weil er verletzt ist. So das ist dann seine Art, um es mir nochmal, weil ich ihn getroffen habe, um es mir dann heimzuzahlen damit.

1: 10:29Und das geht für mich einfach gar nicht. Weil damit er ja super viel Schmerz von früher hervorruft, wo ich mir denke, bist du völlig bescheuert, wenn du sagst, dein Kind wollte im Mittelpunkt stehen. Vielleicht hat dein Kind einfach nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Also ein Kind ist ja der Spiegel von dem Verhalten der Eltern. Also das kannst du doch einem Kind nicht vorwerfen. Wenn ein Kind ein Verhalten an den Tag legt, dann musst du vielleicht selber mal überlegen, was du anders machen sollst. So du hast dein Kind in einer Sekte aufwachsen lassen und bei einer gewalttätigen Mutter

1: 10:58gelassen, weil du das netter fandest mit deiner neuen Frau zusammenzuziehen und hast dann gesagt, meine neue Frau kann ihr Kind mitbringen, aber meine eigene Tochter, die lasse ich dort verrotten. So und dann gibst du noch deinem Kind die Schuld. Und das ich habe, also ich wollte wirklich ein gutes Verhältnis. Ich fand dann auch diese Familienidee so nett und so. Der hat ja auch zu Hause so ein schönes Haus wieder gebaut. Happy Family da. Hund, Baum, Frau, was auch immer.

1: 11:23Immer wenn ich dort war, habe ich gedacht, ich bin hier völlig fehl am Platz. Völlig falsch. Ich habe hier nie gelebt. Das ist nicht mein... Also das fühlt sich an wie so eine Fake-Welt. Und irgendwann ist mir dann einfach der Kragen geplatzt. Und du bist nicht selber dafür verantwortlich, eine Eltern-Kind-Beziehung zu heilen. Dazu gehören zwei. Wenn eine Beziehung kaputt ist oder Sachen erlebt hat, dann müssen beide Seiten das heilen wollen.

1: 11:47Klar kannst du selber zur Therapie gehen, aber du kannst nicht den Anteil des anderen lösen. Und das ist ein Problem. Und ich glaube, das haben viele Leute einfach nicht verstanden, dass sie, auch vor allem die Generation meiner Eltern, dass es auch keine Schwäche ist, mal psychologisch an Sachen ranzugehen und mal aufzuarbeiten. Die tun immer so, als wäre das so ein Riesending, sich mit Psychologie zu beschäftigen und mal über Gefühle zu reden oder mal zu weinen. Würdest du sagen, du vermisst was aus deinem alten Leben?

1: 12:22Also es war schon ganz nett, den Gedanken von Gott außerwählt zu sein und zur Elite der Menschheit zu gehören. Ich kann nicht sagen, dass mir das nicht fehlt. Es hatte schon eine gewisse Arroganz. Du hast schon gedacht, naja, ihr werdet alle sterben, ihr werdet schon sehen, aber ich. Aber das war ja nichts Reales. Die Gemeinschaft war sehr eng. Also du hattest halt immer das Gefühl, du bist was wahnsinnig Besonderes.

1: 12:47Und dieser Erfall zu merken, okay, ich bin eigentlich nicht so besonders. Eigentlich gibt es hier ganz viele andere Menschen, die auch alle irgendwie auf ihre Art und Weise total besonders sind. Das war schon schmerzhaft, weil ich habe ja immer gedacht, ich bin von Gott persönlich auserwählt. Sorry, aber das könnt ihr jetzt nicht mithalten. Das war schon gewöhnungsbedürftig. Wie gesagt, die Gemeinschaft war nett.

1: 13:11Du hattest immer das Gefühl, du hast was ganz Geheimes, was Besonderes, was Reines und jetzt bin ich in der Welt und dirty. Ja, es ist, also eigentlich fehlt mir, also mein Leben ist jetzt tausendmal besser, tausendmal besser. Vermissen tue ich gar nichts und das, also dieses Konstrukt, in dem ich gelebt habe, es war eine Illusion, da war nichts echt. Das ist ja, das war eigentlich eine Geisteskrankheit. Also eigentlich habe ich in einer

1: 13:45schizophrenen Umgebung, in einer Vision von irgendwelchen Sektenführern gelebt, in einem nicht reellen Magnetfeld des Wahnsinns, wenn man so will. Was wünschst du dir für die Zukunft? Ich wünsche mir, dass ich langsamer altere, tatsächlich. Ich kann es nicht anders sagen. Du bist doch erst 28.

1: 14:04Also pass auf, ich habe die ersten 18 Jahre meines Lebens, kannst du in die Tonne kloppen. Die nächsten 5 Jahre habe ich mich versteckt vor der Vergangenheit, kannst du auch in die Tonne kloppen. Das heißt, ich lebe jetzt effektiv seit 5 Jahren. Und in der Zeit habe ich mich aber auch wahnsinnig entwickelt. Also die Hälfte der Zeit habe ich auch vielleicht auch recht dumme Entscheidungen getroffen. Ziehen wir mal noch 2,5 Jahre ab. Ich habe das Gefühl, die Zeit rinnt mir durch die Finger. Und es gibt so viele Sachen, auf die ich heute erst komme, die ich hätte machen können und nicht gemacht

1: 14:32habe und für die es jetzt auch schon zu spät ist. Oder von meinem Gefühl her. Ich hätte gerne noch mal eine Schule besucht, mit diesem jugendlichen Leichtsinn, vielleicht auch mal im Ausland, ein Jahr Highschool oder auch während der Ausbildung einen Schüleraustausch hätte ich super gerne mal gemacht oder mal ein Jahr im Ausland irgendwie oder mal so ein Studium, mal so ein Studenten. Ich arbeite halt seit ich 16 bin und ich hatte nie dieses Unbeschwerte, dass ich einfach zu Hause anrufen kann, wenn ich Probleme habe oder wenn ich mal Geld brauche. Ich hätte aber gerne mal so ein Leben als junge Frau, junge Studentin, hat irgendwie eine Studi-WG, muss sich aber keine Sorgen machen, weil er kriegt BAföG und im Notfall ruft er den Papi an und der überweist was

1: 15:23und kellnert nebenbei abends und studiert Ägyptologie und griechische Geschichte oder keine Ahnung, so was, weißt du so, und wenn es halt nichts ist, dann spricht er halt ab und studiert nochmal BWL oder ich weiß es, keine Ahnung. Gibt es noch was anderes, wo du sagst, was wünschst du dir für die Zukunft? Also ich wünsche mir, dass sich ein paar Sachen lösen, die mich gerade noch so, die noch nicht so klar sind. Ich hätte gern mehr Erfolg bei den Dingen, die ich tue und ich würde gern mehr tun und dafür brauche ich mehr Zeit.

1: 15:58Deswegen wäre es netter, langsamer zu altern. Also auch optisch natürlich klar auch, aber ich möchte gerne mehr Zeit, weil ich schon so viel Zeit verloren habe und ich habe so viele Pläne, ich habe so viele Projekte und ich schaff's nicht. Und das macht mich ein bisschen traurig, weil ich gerne mehr machen würde. Ich würde gerne auch einen Fußabdruck hinterlassen in der Gesellschaft. Ich würde gerne mehr bewegen. Ich würde gerne Sachen verändern, nachhaltig verändern. Und ich habe das Gefühl, dass ich das nicht kann, weil ich nicht genug Zeit dafür habe und weil ich nicht meine komplette Energie in alles stecken kann.

1: 16:29Aber es ist spannend, weil tatsächlich machst du das doch. Also deine Identität... Aber mir ist es nicht genug. Mir ist es nicht genug. Ja, aber deine Identität hat dich ja genau an diesen Punkt gebracht, an dem du ja jetzt bist. Und das, was du machst, du lässt ja was der Gesellschaft dar. Dass du darüber sprichst, dass du darüber aufhörst und dass du anderen Menschen Mut

1: 16:45machst, die selber in der gleichen Situation sind, um da auszusteigen. Aber für mich ist es tatsächlich nicht genug. Also ich weiß das auch, ich bin da auch sehr dankbar dafür, aber ich sehe mehr Potenzial. Weißt du? Und ich sehe, dass ich mehr machen kann und dass ich noch mehr bewegen kann. Vielleicht sollte ich mir auch selber weniger Druck machen. Also ich meine, ich kann ja auch mit 50 noch Sachen bewegen. Dann habe ich ein paar mehr Falten.

1: 17:08Aber ich weiß das. Ich weiß das alles. Aber ich will das Maximum aus meinem Leben, was ich noch habe, herausholen. Ich bin sehr gierig. Ich bin sehr gierig nach Leben. Und das ist auf der einen Seite gut, weil es so einen gewissen Ehrgeiz und Kampfgeist mit sich bringt, aber andererseits muss ich aufpassen, dass ich da nicht zu sehr mich rein verrenne und versuche, im Moment zu leben und zu genießen.

1: 17:29Also ich genieße mein Leben sehr, aber ich neige auch ein bisschen dazu, mich stressen zu lassen von Sachen, die noch nicht sein sollen, vielleicht auch einfach. Ich müsste, glaube ich, ein bisschen mehr Urvertrauen ins Leben haben und mich mehr settlen und sagen, okay, kommt schon alles, wie es kommen soll. Das versuche ich mir auch oft genug zu sagen, weil man soll ja auch manifestieren und man glaubt das ja dann auch. Aber ich habe viele Pläne, ich hoffe, dass mindestens die Hälfte davon klappt. Eigentlich wäre das Geilste, wenn ich meine Pläne weit übertreffe.

1: 18:00Die Pläne, die ich mit 23 hatte, habe ich ja jetzt schon weit übertroffen. Und ich hoffe, dass es auch noch so weitergeht. Ich hoffe, dass es niemals aufhört. Und bitte, oh Herr, mach es möglich. Ich wünsche es dir von Herzen. Ich wünsche es mir auch. Danke. Was würdest du anderen raten, die in einer ähnlichen Situation sind oder waren, in der

1: 18:19du warst? Wie sollte man da agieren, wenn man da raus möchte? Also ich finde, psychologische Hilfe ist das A und O. Also ich habe mir das damals nicht gesucht, weil ich dumm war, weil ich es einfach nicht wusste, dass ich die Möglichkeit habe, das in Anspruch zu nehmen, weil es mir keiner gesagt hat, weil ich mit niemanden geredet habe. Psychologische Hilfe, dann darüber reden mit Leuten, also einfach mit Familienangehörigen, die damit nichts zu tun haben oder mit oder was auch immer

1: 18:43zu tun haben, mit jemandem, dem man vertraut, Arbeitskollegen, Nachbarn, irgendwelche Menschen. Man muss nach Hilfe fragen, weil ein Side-Effekt dieser Gehirnwäsche ist, dass man einfach immer denkt, man ist der einzige Mensch auf der Welt, dem es so geht. Und dass niemand es versteht. Und das ist nicht wahr. Es verstehen Leute und es müssen auch nicht alle verstehen. Also man kann sich, wenn man sich Gleichgesinnte sucht, Aussteiger fohren, Sektenberatungsstellen vermitteln, Aussteiger wie ich zum Beispiel, die auch ein großes Netzwerk haben an anderen,

1: 19:12vermitteln auch Kontakte. Das ist möglich, man muss aber fragen. Und auch weltliche Menschen, die so böse erscheinen, vor denen man immer gewarnt wurde, die sind total nett, die helfen, wenn man zu jemandem hingeht. Ich kenne auch Mädels, also ich betreue ja selber auch Aussteiger hauptsächlich aktuell tatsächlich Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch bei Jehovas Zeugen. Und viele von denen, die sagen mir, hey, durch meine Lehre habe ich das richtig gut geschafft? Die haben mir total gut geholfen. Oder Schulsozialarbeiter. Also die eine hat sogar bei ihrer Lehrerin gewohnt. Weil die Kinder, das muss man sich vor Augen halten, die werden zu Hause rausgeworfen, wenn die sich dagegen entscheiden. Oder die können nicht weiter in dem Elternhaus leben. Das funktioniert nicht. Und zum Jugendamt

1: 19:56gehen, zu Betreuern gehen, im Notfall irgendwie Vereine anfragen, Frauenhäuser, Sachen. Also aktiv nach Hilfe fragen. Es gibt Leute, deren Job es ist zu helfen. Weiße Ringen bei Straftaten, bei Missbrauch, bei Gewalt und so. Das ist wichtig. Man hat das nicht auf dem Schirm, dass es solche Organisationen gibt, aber das ist denen ihre Aufgabe. Die kriegen dafür Geld, sich um einen zu kümmern.

1: 20:19Und das muss man einfach machen. Und genauso dem Umfeld anvertrauen. Also soziale Kontakte aufbauen, die für einen da sind. Und wenn das Nachbarn sind, wenn das alte Klassenkameraden sind, wenn das Kollegen auf Arbeit sind, einfach, dass man nicht alleine da steht nach so einem Ausstieg. Hast du noch eine Frage? Nein, nein, ich bin einfach nur gerührt von dir und deiner persönlichen Geschichte. Es tut mir so leid, ich habe so viel geredet. Nein, nein, es ist fantastisch. Es war großartig. Sophie, vielen Dank, dass du da warst. Ich wünsche dir von Herzen alles Liebe für deine Zukunft. Danke schön, dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast und dass du uns so viele intime Anblicke gegeben hast.

1: 21:01Ich danke euch. Grazie. Bis zum nächsten Mal. Hier noch eine Anmerkung. Wenn du von den besprochenen Themen betroffen bist oder Unterstützung benötigst, bitte zögere nicht, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hol dir Unterstützung bei professionellen Hilfseinrichtungen oder dir vertrauten Personen. Bis zum nächsten Mal bei Von Bohne zu Bohne. Du willst selbst bei uns dabei sein? Dann melde dich auf unserer Website oder unsere Social Media.

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